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Kultur: „Übersetzen kann zur Sucht werden“

Darum begibt man sich beim Übersetzen eben auf Wörterjagd.“ Mit Fontane „Anna Karenina“ neu übersetzt: Morgen ist Rosemarie Tietze in der Villa Quandt zu Gast Meine Übersetzung hat eine ganz andere Tonalität als die früheren.“

Stand:

Frau Tietze, für Ihre Neuübersetzung von Tolstojs „Anne Karenina“ war, wie Sie sagen, Theodor Fontane „das Wichtigste“. Warum ausgerechnet ein deutscher Schriftsteller wie Fontane?

Wenn ich ein so überragendes Sprachkunstwerk wie „Anna Karenina“ übersetze, gehört für mich dazu, dass ich mich in der Literatur der deutschen Zeitgenossen des Autors umtue – und bei diesen Recherchen war Fontane „das Wichtigste“. Das heißt, ich schärfe auf solche Weise mein Sprachgefühl, messe den historischen Abstand zwischen dem damaligen Deutsch und dem heutigen aus. Wie klang seinerzeit Salongeplauder, was gab es für Modewörter, welche Begriffe waren für die Eisenbahn in Umlauf und so weiter – alles Dinge, die man ja nicht automatisch weiß. „Einlesen“ nenne ich eine solche Suche nach dem passenden Deutsch.

Und wie muss man sich diese Arbeit mit Fontane nun für die Neuübersetzung vorstellen?

Es war einfach eine sehr genaue Lektüre, wobei ich mir manchmal Wörter oder ganze Sätze aus Fontanes Prosa beziehungsweise den Briefen notiert habe, sozusagen auf Verdacht, vielleicht würden sie mir noch nützen. Dank der neuen Technik konnte ich in digitalisierten Texten Fontanes oder anderer Autoren auch regelrecht nach Wörtern suchen, wenn ich mir unsicher war, ob sie damals schon verwendet wurden. Ein heute so alltägliches Wort wie „reagieren“ war zum Beispiel in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts noch unüblich.

Es gibt schon mindestens 20 Übersetzungen von „Anna Karenina“. Was war für Sie ausschlaggebend, ausgerechnet diesen über 140 Jahre alten Roman neu zu übersetzen?

Meine Frage an mich selbst war: Kann ich dem, was frühere Übersetzer in dem Roman gesehen haben, noch Neues hinzufügen? Und nach Übersetzungsproben fand ich: Ja, durchaus. Meine Übersetzung hat eine ganz andere Tonalität als die früheren. Ohne derart motiviert zu sein, hätte ich diesen Riesenberg nicht bestiegen.

Sie sprechen von Tonalität. Was ist das Reizvolle an der Sprache Tolstojs?

Mir erscheint „Anna Karenina“ als der ideale Roman. Tolstoj hat sowohl die Handlung in unglaublicher Harmonie aufgebaut als auch den Mikrokosmos des Werks, die Sprache, minutiös gestaltet. Wie raffiniert er Sätze schwingen lässt oder den Figuren bestimmte Adjektive zuteilt, das hat mich während der Arbeit stets erneut fasziniert.

Und worin lagen die Schwierigkeiten bei der Übersetzung dieser außergewöhnlichen literarischen Sprache?

Solche subtilen Sprachstrukturen nachzubilden, dem deutschen Text eine ähnliche Spannkraft zu verleihen, wie der russische sie hat – das ist nicht einfach. Da sitzt man und bastelt, schreibt Adjektive oder ganze Sätze zwei-, dreimal oder fünfmal neu. Mühsam waren manchmal auch die Recherchen, von der Eisenbahn über Pferderennen bis hin zur Landwirtschaft. Tolstoj ist sehr genau in den Details, da darf die Übersetzung nicht schludern und sich mit vagen Begriffen begnügen.

Trotz all dieser akribischen Kleinarbeit, was macht eine neue Übersetzung überhaupt notwendig, was macht sie anders, besser gesagt neu?

Jede Zeit sieht die Klassiker anders, und diese andere Sichtweise kann durch eine Neuübersetzung befördert werden. Eine Übersetzung ist ja kein Spiegelbild, kein mechanischer Abklatsch des Originals; jede Sprache bildet die Welt anders ab, darum sind Übersetzungen immer Interpretationen. Das ist kein Nachteil, vielmehr wird auf diese Weise für jede – oder jede zweite – Generation die Klassik wieder neu lebendig. Übersetzungen sind das Lebenselixier der Literatur.

Und darum haben Sie sich ausgerechnet für das Übersetzen entschieden? Die erst kürzlich verstorbene Dostojewski-Übersetzerin Swetlana Geier hat gesagt, dass Sprachen nicht kompatibel seien und Übersetzung immer nur Annäherung, eine Interpretation sein kann, die einem immer wieder das eigene Unvermögen vor Augen führe.

Aus meiner Sicht ist das Literaturübersetzen eine hohe Kunst, vergleichbar der Verwandlung des Schauspielers, der auf dem Theater eine Rolle verkörpert, oder der Darbietung eines Pianisten, der die hundertsiebenundzwanzigste Einspielung von Chopin vorlegt. Ich gehöre nicht zu den Pessimisten, die beim Übersetzen ewig über Verluste klagen – für mich ist das Glas immer halb voll. Und wie das Theaterspielen oder das Musizieren kann auch das Übersetzen regelrecht zur Sucht werden. Dass die Übersetzungskunst in der Gesellschaft weniger anerkannt ist, steht auf einem ganz anderen Blatt, das beeinflusst aber meine Einstellung nicht.

Warum ausgerechnet Ihr Interesse für die russische Sprache?

Von meinem Heimatort am Schwarzwaldrand sieht man das Straßburger Münster, „westlicher“ könnte der Blick also kaum sein. Ein guter Grund, um in müpfiger Jugendzeit sich zu sagen: Ich will aber in die andere Richtung schauen, zur exotischen östlichen Seite, wohin von uns sonst niemand blickt.

Als Übersetzerin sind Sie auch regelrecht Wortdetektivin. In „Anna Karenina“ schreibt Tolstoj ausgiebig über die Schnepfenjagd. Für die Neuübersetzung eines einzigen Wortes sollen Sie sogar einen Jäger konsultiert haben?

Nicht wegen eines Einzelworts, obwohl auch das Grund genug wäre, um einen Fachmann zu konsultieren. Nein, Tolstoj beschreibt ja gleich zweimal eine Schnepfenjagd, und da er selbst Jäger war, benützt er auch die entsprechende Jagdterminologie. So etwas verleiht einer Prosa Farbe, darum begibt man sich beim Übersetzen eben auf Wörterjagd.

Ist ein solcher Aufwand nicht etwas übertrieben?

Wieso? Ein literarischer Text setzt sich aus Tausenden unscheinbarer Kleinigkeiten zusammen, und nur, wenn alles Kleine „stimmt“, kann große Kunst daraus werden. Hätte ich an solcher Akribie im Detail keine Freude, sollte ich gar nicht mit dem Übersetzen anfangen.

Würden Sie Ihre Neuübersetzung der „Anna Karenina“, für die Sie sehr viel Lob erhalten, als eine Art Lebenswerk bezeichnen?

Es ist meine bisher bekannteste Übersetzung, das ja, aber zu meinem Lebenswerk gehören natürlich auch meine anderen Autoren wie Andrej Bitow, Vladimir Nabokov, Boris Pasternak, Ljudmila Petruschewskaja und andere.

Kann für Sie als Übersetzerin trotzdem nach der „Anna Karenina“ noch etwas kommen, was die Arbeit an einem solchen Meisterwerk überhaupt überbieten könnte?

Oh, erstens hat Tolstoj noch viel geschrieben, was ebenfalls neu übersetzt werden könnte, außerdem habe ich noch genügend andere Ideen im Kopf. Aber darüber lasse ich mich besser nicht aus, denn die Wege zur Verwirklichung solcher Projekte sind oft lang, kurvenreich und steinig.

Das Gespräch führte Dirk Becker

Rosemarie Tietze liest und spricht über ihre Neuübersetzung von „Anna Karenina“ (Hanser-Verlag, 39,90 Euro) am morgigen Donnerstag, 19 Uhr, im Theodor-Fontane-Archiv in der Villa Quandt, Große Weinmeisterstr. 46/47. Der Eintritt kostet 5 Euro. Anmeldung erbeten unter Tel.: (0331) 20 13 96

Rosemarie Tietze, geb. 1944 in Oberkirch, studierte Theaterwissenschaft, Slawistik und Germanistik und arbeitet als Übersetzerin, Dolmetscherin und Dozentin. Sie lebt in München.

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