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Wie gut können wir uns überhaupt kennen? Das müssen sich Alice Harper (Andrea Thelemann) und ihr Ehemann Patrick (Jon-Kaare Koppe) in „Zorn“ immer wieder fragen.

© HL Böhme/HOT

Premiere am Hans Otto Theater: Und der Schein trügt

Mit „Zorn“ hat am Freitag ein politisches, aber kein belehrendes Stück Premiere am Hans Otto Theater. Darin geht es nicht nur um Extremismus und Religion, um Erfolg und die Geheimnisse, auf denen er fußt, sondern auch um die hybride Grenze zwischen guten Absichten und bösen Taten.

Stand:

Es ist ein Stück, so nah am Zeitgeist, dass an den deutschen Theaterbühnen sogleich ein Wettrennen um seine Inszenierung ausgebrochen ist: Am kommenden Freitag hat das Stück „Zorn“ von der australischen Autorin Joanna Murray-Smith in der Regie von Elias Perrig im Hans Otto Theater Premiere, nur eine Woche nach der Deutschlandpremiere in den Hamburger Kammerspielen. Danach folgt das Düsseldorfer Schauspielhaus, im kommenden Frühjahr die Salzburger Kammerspiele. Aber diese Zeit fordert ja auch geradezu eine Auseinandersetzung mit den Problemen, die die Gesellschaft auch international immer wieder beschäftigen: mit Extremismus, Religion, Rassismus – und mit der Frage nach den eigenen Werten.

Dass sich das Potsdamer Ensemble Joanna Murray-Smith annimmt, ist keine Überraschung, gilt die Autorin doch als die derzeit erfolgreichste australische Dramatikerin, deren Stücke regelmäßig ausgezeichnet und in derzeit über 20 Ländern aufgeführt werden – vor allem in den USA. In Sydney dagegen, wo die Autorin arbeitet, kommt der Ruhm erst jetzt langsam an.

Dass „Zorn“ ein allzu belehrendes politisches Stück wird, muss niemand befürchten. Im Zentrum der Handlung steht die berühmte Hirnforscherin Alice Harper (Andrea Thelemann), die für ihre humanitären Leistungen auf dem Gebiet der Neurowissenschaft eine internationale Auszeichnung erhält – sogar als erste Frau überhaupt. Der Preis ist nur die Krönung ihres Erfolges, ein Sahnehäubchen ihrer Karriere – überhaupt ist ihr Leben ein Erfolg: Ihre Welt ist schön und makellos, sie ist angesehen, ihr Mann Patrick (Jon-Kaare Koppe) ist ein Schriftsteller, der zwar auch erfolgreich ist, aber immer noch im Schatten von Alice verharrt. Und was macht Alice mit diesem Preis? Sie spendet das dotierte Geld. Schöne, heile, vorbildliche Welt.

Doch der Schein trügt. Denn während sich Alice auf die Krönung ihrer Karriere vorbereitet, erfährt sie, dass ihr 16-jähriger Sohn Joe eine Moschee mit Graffiti geschändet hat. Ausgerechnet ihr Sohn, den beide Eltern zu einem selbstständigen, toleranten Menschen erzogen haben wollen, soll ein Rassist sein? Alice Harper und ihr Mann Patrick sind entsetzt – und müssen fesstellen, dass sie gar nicht so viel über ihn wissen.

Genau das will „Zorn“ thematisieren: Was wissen wir über den anderen? Die Vorwürfe gegen den Sohn geraten schnell in den Hintergund. Denn die Journalistikstudentin Rebecca interviewt Alice und stellt bald auch unangenehme Fragen, die in der Vergangenheit der renommierten Neurowissenschaftlerin wühlen. Alice hat ein Geheimnis, das sie aber unbedingt für sich behalten muss: Sie selbst rebellierte als junge Frau gegen ein System, war politisch aktiv, dann geriet alles außer Kontrolle. Die Schuld, die Alice damals auf sich geladen hat, kommt nun nach so langer Zeit der Verdrängung wieder hoch.

„Die Autorin lässt Alice aber nicht in einer Schuldgeschichte zurück“, sagt Andrea Thelemann über ihre Rolle. Und auch wenn das Stück in Australien spielt, habe es eine beeindruckende Allgemeingültigkeit. Alice sei in der Welt der Konventionen angekommen, aber auch sie habe sich als junge Frau einst verpflichtet gefühlt, der Welt etwas entgegensetzen zu müssen – was damals aber für sie alternativlos schien, sind mittlerweile die Wertvorstellungen, nach denen sie selbst lebt. „Zorn“ thematisiert politische Einstellungen und wie man damit umgeht – und genau da schließt sich der Kreis zwischen Alice und ihrem Sohn Joe.

Als Zuschauer ist man schnell hin- und hergerissen – zwischen Hoffnungen und Erklärungsmustern. Das Stück will aber nicht erklären, es will nur beschreiben: Was kann man noch ausrichten? Wie weit muss man zurückgehen? „Alles wird bis ins Kleinste durchgewühlt und muss dann neu geordnet werden“, so Andrea Thelemann.

Dramaturg Remsi Al Khalisi ist sich sicher, dass dennoch die Zuschauer nicht zurückschrecken und denken werden: Oh Gott, das ist ja Politik! „Trotz aller Gedankenschärfe hat das Stück boulevardeske Elemente mit ganz feinsinnigem Humor.“ Trotzdem, so Al Khalisi, sei „Zorn“ keine Inszenierung, in der man sich zurücklehnt und danach noch schick essen geht.

Für Andrea Thelemann ist die Figur der Alice nicht einfach nur eine schauspielerische Herausforderung. „Je mehr ich mich mit Alice beschäftigt habe, desto mehr habe ich über mein eigenes Leben nachgedacht“, sagt Andrea Thelemann. Und dann sagt sie einen Satz, der doch überrascht: „Ich habe mich ständig hinterfragt und tue es auch immer noch – und habe eine andere Haltung bekommen.“ Sie erzählt von der eigenen Vergangenheit in der DDR. Dort habe sie den Willen gehabt, etwas zu verändern, aber letztlich sei die Angst dann doch zu groß gewesen. Aber wie wäre es gewesen, wenn sie im Westen der Republik sozialisiert worden wäre, in einer Umbruchzeit, die mit der RAF viel radikaler war?

„Wenn mir etwas im Weg stand, war Zorn mein Antrieb“, sagt Alice. Dieser Zorn ist in seiner Leidenschaft nicht nur Antrieb, sondern zugleich auch zerstörerisch. Und wenn Zorn dominiert, hinterlässt er Scherben. Die werden in dem Stück von Joanna Murray-Smith aufgesammelt.

Premiere von „Zorn“ am Freitag, dem 19. September, um 19.30 Uhr im Hans Otto Theater in der Schiffbauergasse

Oliver Dietrich

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