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Kultur: Unmut über „Die Russen sind da“

Lesung in der „arche“ aus Zeitzeugenbuch

Stand:

Die neue Publikation des Brandenburgischen Literaturbüros erregt schon Aufmerksamkeit, bevor sie überhaupt erschienen ist. Unter dem Titel „Die Russen sind da“ vereint sie auf mehr als 500 Seiten Tagebücher der Zeit zwischen 1945 bis 1949. Weit über 80 Brandenburger hatten dem Aufruf des Büros vor zwei Jahren erhört und ihre Dokumente eingeschickt, 30 von ihnen wurden gedruckt, wobei man um eine Auswahl nicht herumkam. Das Buch erscheint im Februar, zugleich werden alle Texte unter „zeitstimmen.de“ ins Internet gestellt. Am Dienstag gab Herausgeber Peter Walther in der „arche“ schon mal ein Vorab in diese so weit zurückliegende Zeugenschaft.

Publikum kam bei so einem Thema erwartungsgemäß zahlreich. Hans-Jochen Röhrig und Klaus Büstrin gaben vier der damals Dabeigewesenen Ton und Stimme, darunter eine christlich geprägte Frau aus Neuruppin und ein erklärter Antifaschist aus Seddin. Tagebücher aus Potsdam reichte man so gut wie keine ein, sagte Walther. Die Anlage des Buches sei Walter Kempowskis „Echolot“ nachempfunden, der Versuch also, Zeiten, Orte, Geschehnisse und Personen nach Möglichkeit in eine Art Synchronität zu bringen: „damit nichts verlorengeht“. Zweierlei stellte er der Lesung voran. Einmal bezeichnete er das „Zeitzeugengefühl“ der Autoren als „federführend“, zweitens sprach er von einem „Gefühl der Distanz, der Entlastung“, manchmal sei Tagebuchschreiben ja wie eine heimliche Beichte.

Ausgewählt wurden Tagebuch-Segmente zwischen April und September 1945. Die Endzeit-Erwartung war bei allen vier Personen hoch, ja extrem. „Vernichtung auch über uns, dann Hungersnot, Lebenstraum ausgeträumt“, notierte einer, und fügte prophetisch hinzu: „Deutschland verschwunden für die Vereinigten Staaten von Europa“. Man schaffte Vorräte in die Luftschutzkeller, spürte, wie die Erde von den Bomben bebte, sah dann die ersten Rotarmisten. „Die Russen sind da. Nichts schoss. Nichts feindselig. Weiße Fahnen“, schrieb eine Frau in Oehna bei Jüterbog. Draußen war ein herrlicher Frühling, die Bäume blühten, man besorgte seine Frühjahrsaussaat. Ein anderer Bericht schilderte die Erschießung einer ganzen Familie im selbigen Ort. Nachrichten über das KZ Buchenwald wurden bekannt, und „plötzlich will keiner mehr Nazi sein“.

So ganz zufrieden aber war das Publikum nicht. In Potsdam, sagte eine Seniorin, hätte es „weitaus schlimmere Auswüchse“ als die hier vorgestellten gegeben, aber auch Soldaten, die Brot und Schokolade an die Zivilbevölkerung verteilten. Andere verwunderten sich über die Qualität der „literarisch ausgefeilten Texte“. Eine Diskussion kam nicht auf. Zwei alte Herren verließen die Lesung mit deutlichem Unmut weit vor der Zeit. „Es wird wohl an der Auswahl gelegen haben“, räumte Peter Walther nachträglich ein, erwähnte jetzt erst den „rechtsfreien Raum“, der gleich nach dem Krieg die Rache von Siegern, Massenvergewaltigungnen und Massenerschießungen ermöglichte. „Man hätte auch eine andere Auswahl von harten Geschichten treffen können, aber das hält keiner aus“, entschuldigte sich der Herausgeber noch. So waren die Russen zwar da und auch wieder nicht. Gerold Paul

Die offizielle Buchpremiere findet am Sonntag, dem 30. Januar, 11 Uhr, in der Villa Quandt, Große Weinmeisterstr. 46/47, statt. Kartenreservierung unter Tel.: (0331) 280 41 03

Gerold Paul

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