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Kultur: Unter Zensur Original und Verfremdung der Musa-Dagh-Geschichte

Das Zwischen-den-Zeilen-Lesen wurde nicht erst zu DDR-Zeiten praktiziert. Die Zensur von Publikationen hat in Deutschland eine lange Geschichte.

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Das Zwischen-den-Zeilen-Lesen wurde nicht erst zu DDR-Zeiten praktiziert. Die Zensur von Publikationen hat in Deutschland eine lange Geschichte. Sie ist oft eine delikate Angelegenheit, an der sich die Fronten zwischen Politik, Macht und Individuum zeigen. Besonders in Krisen- und Kriegszeiten wurde die Zensur verschärft. So erging es auch dem Potsdamer Theologen und Orientalisten Johannes Lepsius, dessen Leben untrennbar mit dem armenischen Volk verbunden ist. Aus Zensurgründen schrieb er einen historischen Bericht von der Belagerung des Berges Musa Dagh in Antiochien um und publizierte ihn 1916 in seiner in Potsdam erscheinenden Zeitschrift „Christlicher Orient“ als Kreuzfahrergeschichte aus dem Mittelalter.

In der Villa Quandt wurde jetzt Bericht und Erzählung dieses Ereignisses präsentiert: von dem Lepsius-Forscher Hermann Goltz und von Markus Meckel, der sich für die politische Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern durch die Türken einsetzt. Das historische Geschehen im Jahr 1915 am Berg Musa Dagh wurde durch Dikran Andreasian überliefert, einem evangelisch-armenischen Priester, der an der Verteidigung beteiligt gewesen ist. Sein Bericht ging sogleich an viele Institutionen in aller Welt. Mehr als 5000 aus ihren Dörfern vertriebene Armenier hielten 53 Tage türkischen Angriffen stand, bevor sie von französischen und einem englischen Schiff aufgenommen wurden. Aus diesem dramatischen Geschehen am Moses-Berg formte der Schriftsteller Franz Werfel einen aufrüttelnden Roman mit dem Titel „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ (1933).

Johannes Lepsius wurde als Missionar ein enger Freund der Armenier, war aber zugleich überzeugter Monarchist. Da Kaiser Wilhelm II. mit den Türken befreundet war, die ihn während des Kriegs unterstützten, stand Lepsius zwischen den Fronten. Noch im Weltkrieg verschickte er zwar 2500 Berichte über die Vertreibung und Vernichtung der Armenier an deutsche Stellen, doch die Erstpublikation realisierte er als vermeintlich fiktive Mittelaltergeschichte mit dem Titel „Das rettende Kreuz“. Den Originalbericht von Dikram Andreasian publizierte Lepsius gleich nach Kriegsende 1919 in seiner Zeitung, die nunmehr den Titel „Der Orient“ trug.

Bei der Lesung einzelner Abschnitte zeigten sich gewisse Differenzen in der Wortwahl. So wurde aus dem evangelischen Priester in Andreasians Augenzeugenbericht ein katholischer, aus „Türken“ machte Lepsius „Muselmanen“, aus befreundeten „amerikanischen Missionaren“ wurden „Ordensbrüder“, der französische Kreuzer verwandelte sich in ein Kreuzfahrerschiff der Franken. Doch die historischen Ereignisse blieben in zeitlicher Abfolge und den Umständen unverändert. Selbst die Zahl der geretteten Menschen, 4058, gab Lepsius genau an. So ergab die textgenaue Gegenüberstellung keine große Offenbarung, zeigte bloß gewisse Tricks zur Umgehung von Verboten. Die sind aber weitgehend bekannt, zumindest denjenigen, die unter Bedingungen von Zensur publiziert oder gelesen haben. In der Diskussion ging es um das Unternehmen der Lepsius-Forschung, die von Professor Goltz mit missionarischem Eifer betrieben wird. Dabei kamen aktuelle politische und kritische Dimensionen dieses Projekts kaum zur Sprache. Babette Kaiserkern

Babette Kaiserkern

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