Kultur: Unterwegs mit unbekannt
Marion Brasch liest im Lindenpark aus ihrem skurrilen Roman „Wunderlich fährt nach Norden“
Stand:
Er ist nicht unbedingt ein Sympath, dieser Wunderlich. Ein Schluffi, der seinen Sohn seit elf Jahren nicht gesehen hat, außerdem „wehleidig, schnell eingeschnappt und ganz schön nachtragend“. Das zumindest lässt ihn sein Handy via SMS wissen – Absender anonym. Aber dieser Anonym scheint tatsächlich eine Menge zu wissen, nicht nur über Wunderlich, die Hauptfigur in Marion Braschs neuem Roman „Wunderlich fährt nach Norden“, aus dem sie am heutigen Donnerstag um 20 Uhr im Lindenpark lesen wird. Nein, Anonym kennt auch Details aus dem Leben sämtlicher Personen, die Wunderlich so begegnen, und sei es nur ein streitendes Elternpaar, das Wunderlich bei einer Thai-Suppe im Restaurant beobachtet. Selbst in die Zukunft scheint Anonym blicken zu können – falls es denn stimmt, was er vorgibt zu wissen.
Die Einmischungen dieses allwissenden Erzählers – sonst den Romanfiguren eher unbekannt – sind natürlich etwas absurd und auch unheimlich – letzteres zumindest für Wunderlich. Aber immerhin hält er – oder sie – Wunderlich ein wenig am Arm, wenn der Sog der Einsamkeit an ihm zerrt.
Das allerdings geschieht zu Beginn des Buches quasi permanent, denn Marie hat ihn verlassen, die Frau, die er – nach ihrer Darstellung – bis zum Horizont liebt. Sie selbst, sagt sie, liebe ihn auch, allerdings nur bis quer über die Straße. Diese Diskrepanz hält sie nicht länger aus. Wunderlich hingegen hält sein Leben ohne Marie nicht aus – und droht in Schmerz und Lethargie zu versumpfen. „Er war der unglücklichste Mensch, den er kannte“, heißt es deshalb gleich im ersten Satz. Doch schon wenige Minuten später tritt Anonym in sein Leben. „Guck nach vorn“, simst er und gibt fortan naseweis und besserwisserisch Ratschläge, Anweisungen und Kommentare.
„Luftveränderung“ lautet einer der Ratschläge, die Wunderlich von Anonym erhält, und weil sein neuer Gefährte ziemlich hartnäckig bleibt, beginnt Wunderlich tatsächlich, darüber nachzudenken, wohin er denn fahren könnte. Mit Marie war er zuletzt am Meer, das scheidet also aus, schließlich will er sie vergessen. Eigentlich verreist er auch nicht gerne, alles Wissenswerte über fremde Länder, findet er, kann er auch sehr gut aus Bildbänden und Büchern erfahren. Im Grunde ist er faul und seine Laufbahn als talentierter Bildhauer hat er aufgegeben – wegen einer chronischen Sehnenscheidenentzündung. Er ist keiner, der kämpft. Weder um seine Karriere noch um Marie. Und wirklich verlassen hat er die namenlose Stadt, in der er geboren ist und die gut Berlin sein könnte, eigentlich noch nie. Schließlich rafft er sich aber doch auf und bricht mit dem Zug in Richtung Norden auf – ein Zelt und Anonym in Form seines Handys im Gepäck.
Und wie es mit Reisen so ist: Sie verändern nicht den Menschen, aber seine Sicht auf das Leben. Ein paar falsche Gewissheiten, an denen sich rütteln lässt, gibt es immer. Wunderlich wird auf seiner Reise – weit kommt er übrigens nicht, zumindest nicht geographisch, zum Abenteurer, trifft – flüchtig, aber durchaus intim – verschiedene Frauen, und muss sich irgendwann die irritierende Frage stellen, welches Leben er eigentlich lebt. Und wie nützlich dieser Blauharz ist, der nach Aussage einer seiner Reisebekanntschaften nicht nur Verletzungen, sondern auch jede Erinnerung an sie spurlos verschwinden lässt.
„Wunderlich fährt nach Norden“ ist Marion Brauchs zweiter Roman, 2012 erschien ihr Debüt „Ab jetzt ist Ruhe“. Brasch, die Tochter des DDR-Kulturpolitikers Horst Brasch und Schwester der Schriftsteller Thomas und Peter Brasch, hat darin die turbulente Geschichte ihrer Familie literarisch aufgearbeitet. Mit Wunderlichs Reise bewegt sie sich weg vom Autobiographischen und lässt sich ein auf eine verspielte Form von magischem Realismus. Heraus kommt eine Erzählung, die große Fragen der Selbstfindung amüsant, aber manchmal etwas zu leichtfüßig streift. Ariane Lemme
Marion Brasch liest am heutigen Donnerstag um 20 Uhr im Lindenpark, Stahnsdorfer Straße 76. Der Eintritt an der Abendkasse kostet 18 Euro.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: