Kultur: Unvollendetes Konzert in der Inselkirche
auf Hermannswerder
Stand:
Das Unfertige übt spätestens seit der Aufklärungszeit einen besonderen Reiz auf die Kunst aus. Soweit absichtlich geschaffen, sollte es mehr den Prozess als die Finalität eines Werkes betonen. Im 20. Jahrhundert entstand sogar eine „Fragment-Ästhetik“. Man ordnete alles dazu, was verfügbar war, auch das, was sein Ziel aus natürlichen Gründen nicht mehr erreichte. Für die Musikwelt stehen seitdem Schuberts „Unvollendete“ und das berühmte „Requiem“ von Mozart ganz obenan.
Am Sonntag wurden diese beiden Werke in der schönen Inselkirche Hermannswerder zur Vesperzeit aufgeführt. Dietrich Schönherr hatte sie mit einem enormen Kraftakt zu einem 90-minütigen, sehr dichtgewebten Programm zusammengefügt. Der Publikumsandrang war kolossal. Schuberts vielbewundertes Werk in h-Moll, 1822 entstanden und zu Lebzeiten nie gehört, wird in der Nummerierung seiner Sinfonien von Nr. 7 bis Nr. 9 geführt. Trotzdem weiß jeder, was mit der „Unvollendeten Nr. 9“ gemeint ist. Einerseits Auseinandersetzung mit sich und dem musikalischen Zeitgeschmack seines Publikums, andererseits Reflex auf die heraufziehende Industrie-Epoche, ist dieses Opus vielleicht die Krönung der romantischen Tonkunst. Auch in der Darstellung durch das von Musikern der Orchesterwoche verstärkte „Kammerorchester Hermannswerder“ spürte man die seelische Unruhe des Komponisten heraus, besonders in den abrupten Sforzatoschlägen. Der Chor- und Orchesterleiter schuf dem Publikum eine sehr kompakte Aufführung, worin er die beiden Grundmotive kräftig aufeinanderprallen ließ. Das Paganisch-Leichte (sehr gute Flöten) lag ständig im Kampf mit den heraufgrummelnden Kräften der Düsternis, was sich, musikalisch variiert, im zweiten Satz Andante con moto wiederholte. Eine dynamische, sehr schöne, bestens ausgewogene Arbeit, worin die Posaunen unheilvoll und durchgängig von „Zukunft“ künden. Die liebliche Schluss-Coda freilich wollte zu dem einstudierten Kraftpaket nicht passen, nichts deutete auf das Fragmentarische dieses Werkes hin.
Das Requiem d-Moll wollte Schönherr nicht in die Tradition des „unheimlichen Auftraggebers“ gestellt wissen, dem vermeintlichen Todesboten Mozarts. Seine Aufführung strebte eher nach Transparenz und gedanklich-theologischer Klarheit, wobei man sich über manche lateinische Übersetzung (italienisch gesprochen) ebenso verwundern musste, wie über den Mut, dieses Opus mit einem Chor von etwa 150 Stimmen einzustudieren.
Was Schuberts Werk in der Inselkirche so groß machte, schien hier etwas unterbelichtet – die Darstellung echter Gefühle, etwa in „La-crimosa“ oder im „Sanctus“, das ein wenig bombastisch geriet. Von den jungen Solostimmen war die Altistin Franziska Neumann vielleicht die beständigste. Maria Meckel konnte mit einem brillanten Sopran aufwarten, weniger aber mit durchgehend klaren Partien (Domine Jesu). Ähnlich der Tenor Alexander Schafft, während Cornelius Uhle, Bass, sich gut in seine Aufgabe fügte. Ein Lob für die Quartette. Der vereinigte Schul- und Projektchor des Hermannswerderschen Gymnasiums hatte gute Kräfte im „Introitus“ oder „Hostias“, weniger gute im erdigen „dies irae“. Warum Schönherr ihn im „Kyrie“ so wahnsinnig hetzen ließ, ist rätselhaft. Wunderbar alle Pausierungen, vorbildlich gar, dieses Requiem einem verstorbenen Freund und Kollegen zu widmen. Die sauber gearbeitete und flott gegebene „Communio“ schloss auch diesen Teil höchst harmonisch ab.
Zwei Fragmente, zweimal das Streben nach Vollendung – bei diesem staunenswerten Liebhaber-Konzert bleibt wohl ein Rest. Gerold Paul
Gerold Paul
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