Kultur: Urgewalten
Lia Rodrigues „Pororoca“ holt den Urwald um den Amazonas in die „fabrik“
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So sieht die Stille vor dem Sturm aus: Eine Menschengruppe steht dicht beisammen am Rand der Tanzfläche in der Potsdamer „fabrik“. Wie zur Abwehr halten sie Stühle und Tische vor sich. Plötzlich, in einem wilden Wirbel, fliegen Tisch und Stühle, Tüten und Kleidung umher.
Auch die Tänzer der brasilianischen Companhia de Danças jagen wie entfesselt über die große Bühne der „fabrik“, ohne erkennbare Ordnung, bilden dann, körperlich ineinander verschlungen, eine Linie nach hinten. Ein Standbild aus gefrorener Bewegung, das unvermittelt wieder in Rasen und Hasten, Trampeln und Trappeln übergeht. Beim Stampfen der Füße meint man brodelnde Urwaldrhythmen zu hören. Auf ein Naturphänomen verweist der Titel des einstündigen Werks, Pororoca, die Riesenwelle, die mehrmals im Jahr vom Atlantik in die Öffnung des Amazonas drängt. Mit gewaltigen Kräften werden dabei Landschaft, Flora und Fauna durcheinandergewirbelt.
Energiegeladen geht es auch in der Compagnie von Lia Rodrigues zu. Sieben Damen und sechs Herren in farbig-verwaschenen Hosen und T-Shirts bewegen sich mit höchstem Körpereinsatz über die Tanzfläche, sie rangeln, krabbeln, kriechen, sie keuchen, hecheln und stöhnen. Einzelne nehmen pantomimisch Posen von Ungläubigkeit und starrem Entsetzen ein, andere zucken wie wahnsinnig, dann wieder kopulieren sie zu zweit und zu dritt in verschiedensten Positionen miteinander – ein einziges Inferno, das in seiner Bildsprache an apokalyptische Gemälde von Hieronymus Bosch erinnert. Eine Szene zeigt die Gruppe aufeinander sitzend, dazu erzeugen sie bellende, brüllende, pfeifende Klänge, dass man sich mitten im Amazonas-Urwald wähnt. Wie griechische Amazonen zeigen die reitenden Damen dazu eine entblößte Brust. Körper und Stimmen in permanenter Bewegung, Schweiß rinnt in Strömen.
Viele Zuschauer reagieren staunend auf das archaische, bisweilen akrobatische Szenario, eine kleine Gruppe kann ihre Heiterkeit nicht verbergen. Zunehmend verschwinden individuelle Gesten, mehr und mehr verbinden sich die Figuren zu amöbengleichen Haufen, bilden amorphe Kollektivkörper, die wie elektrisiert zucken, zappeln, hochschießen, niedersinken. Erst gegen Ende finden sich ruhige Bilder, aus vielen Körpern geformte leicht schwankende Skulpturen entstehen, von denen man meint, das Wasser ablaufen zu sehen. Dann bricht sich die Urgewalt des nassen Elements noch einmal Bahn. Einem reißenden Strom aus Leibern, Armen, Beinen gleich schäumen die Tänzer aus dem Saal. Bravorufe, begeisterter Applaus. Babette Kaiserkern
Babette Kaiserkern
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