Kultur: Urkatastrophe
Christopher Clarks Buch über den Ersten Weltkrieg
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An neuen Büchern, die im nächsten Jahr anlässlich des 100. Jahrestags des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs erscheinen, wird es sicher nicht mangeln. Sie werden sich einreihen in die längst nicht mehr überschaubare Anzahl von Publikationen zu diesem Thema, und ob sie tatsächlich neue Erkenntnisse mitbringen, bleibt abzuwarten. Christopher Clarks soeben erschienenes Buch „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ (Deutsche Verlags-Anstalt, München, 39,99 Euro), das er am Dienstagabend im fast überfüllten Kutschstall des HBPG vorstellte, ist in dieser Hinsicht weit mehr als eine Aktualisierung und dürfte schon jetzt eine herausragende Stellung einnehmen.
In seiner umfassenden und komplexen Darstellung der Vorgeschichte des Krieges beschreibt der in Cambridge lehrende Historiker minutiös die Interessen und Motive der wichtigsten politischen Akteure, die sich in einer Art traumwandlerischen Sicherheit und ohne die Folgen abzusehen in die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ hineinmanövrierten. Der gängigen These, wonach das deutsche Kaiserreich in seinem Großmachtstreben für den Ausbruch des Krieges hauptverantwortlich gewesen sei, widerspricht er dabei ganz klar. In seiner Analyse, für die er unzählige Dokumente deutscher, englischer, französischer, russischer, aber auch serbischer Herkunft ausgewertet hat, stellt Clark nicht von vornherein die Frage, warum es zum Krieg kam, sondern wie es dazu kam.
Erst durch das Nachvollziehen der internationalen Ursachenkette ließe sich ermitteln, wer die Verantwortung für das Ergebnis trägt, so Clark. In der Geschichte, die sein Buch glänzend erzählt, bestimmen Könige, Kaiser, Außenminister, Botschafter, Militärs oder Beamte als Entscheidungsträger der beiden europäischen Bündnissysteme, Entente und Dreibund, das Bild der machtpolitischen Gegensätze. Dass die Krise nach dem Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand und dessen Frau am 28.Juni 1914 in Sarajevo 37 Tage später in den Krieg mündete, war, wie Clark schreibt, „das Ergebnis einer gemeinsamen politischen Kultur. Sie entwickelte sich in einem vielfach gebrochenen Beziehungsgeflecht“. Jeder der beteiligten Akteure habe gemeint, handeln zu müssen, da der Krieg ihm aufgezwungen worden sei, was zeige, dass alle europäischen Großmächte, aber auch die Balkanstaaten eine Mitverantwortung am Ausbruch dieses Krieges tragen. Ausführlich spricht Clark über die „Balkanisierung“ der französisch-russischen Allianz, zitiert Briefe des französischen Staatspräsidenten Raymond Poincaré an Zar Nikolaus II., die recht unverblümt seine Kriegsbereitschaft erkennen lassen und seine Absicht, den Nationalismus und die Todfeindschaft Serbiens gegenüber Österreich-Ungarn auszunutzen. So beschreibt Christopher Clark in seinem Buch nicht nur, wie die Morde von Sarajevo vom serbischen Geheimdienst geplant und von Selbstmordattentätern verübt wurden, sondern zeigt auch, dass die dadurch entstandene Krise exakt dem Eröffnungsszenario entsprach, welches die französisch-russische Allianz zuvor als den „optimalen casus belli“ bezeichnet hatte.
Es liegt Clark fern, Bezüge zur Gegenwart herzustellen. Doch hätten auch die Anschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 gezeigt, inwiefern ein einziges symbolträchtiges Ereignis die Politik unwiderruflich verändern könne, indem es neuen Optionen eine unvorhersehbare Dringlichkeit verleiht.
Daniel Flügel
Daniel Flügel
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