Kultur: Utopia, wahrhaft freies Land Volker Braun bei „Ernstfall Demokratie“ im Filmmuseum
Von Moritz Reininghaus Schwarzenberg – weißer Fleck auf der politischen Landkarte Deutschlands in der „Stunde Null“. Wir schreiben Mai 1945.
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Von Moritz Reininghaus Schwarzenberg – weißer Fleck auf der politischen Landkarte Deutschlands in der „Stunde Null“. Wir schreiben Mai 1945. Deutschland hat kapituliert, scheint vollständig besetzt – ist es aber nicht. Im Erzgebirge wurde das Gebiet um Schwarzenberg von Amerikanern wie Sowjets gleichermaßen „vergessen“. Sei“s aus Versehen, sei“s um aus dem Osten zurückströmenden deutschen Truppen die Möglichkeit zur Kapitulation bei den westlichen Alliierten zu geben. Tatsache ist: In Schwarzenberg ergab sich für die Bevölkerung die einmalige Chance, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und somit für zweiundvierzig Tage den „Ernstfall Demokratie“ zu proben. Volker Braun, nach Stefan Heym bereits der zweite Schriftsteller, der sich den kuriosen Ereignissen nahe der tschechischen Grenze zuwendet, war am Montag zum Auftakt einer opulenten Veranstaltungsreihe zur Demokratie in Deutschland im Filmmuseum, um aus seinem Buch „Das unbesetzte Gebiet“ zu lesen. Ebenso rührig wie Volker Brauns Unterfangen, seinem geschriebenen Text die sächsische Mundart zu integrieren, ist der Versuch des gebürtigen Sachsen, diese in der eigenen gesprochenen Sprache zu unterdrücken. Muss er auch nicht, denn so ergibt sich, dass wahr wird, was der Autor versprochen hat: Er hat einen Film mitgebracht. Mehr noch ein Hörspiel, das mit dem versehen ist, was eine Demokratie braucht: verschiedene Stimmen. „Ihr habt die Macht ergriffen!“: ein sowjetischer Offizier in Brauns Erzählung kann sein Erstaunen kaum verbergen, dass es Deutsche gibt, die auch zwölf Jahre, nachdem Hitler verkündet hatte, diese Macht ergriffen zu haben, nicht die Alltagssorgen, sondern auch die Entnazifizierung selbst in die Hand nahmen. Braun, nicht nur in seinem Sprachwitz Dialektiker, beleuchtet eine kurze Episode deutscher Eigenverantwortlichkeit, die zudem eine treffliche Möglichkeit bietet „ins Heute zu sehen“, wie es sich Filmmuseumsdirektorin Bärbel Dalichow von der gesamten Veranstaltungsreihe „Ernstfall Demokratie“ wünscht. Eine „mittelmäßige Zumutung“ nannte Dalichow das Programm und meinte damit selbstironisch den gewaltigen Umfang der Reihe. Viel eher trifft diese Einschätzung auf den unbequemen aber verheißungsvollen Weg der Auseinandersetzung mit den Wurzeln der deutschen Demokratie zu, den die Reihe beschreiten möchte. Angesichts von Volker Brauns Beschreibungen muss sich diese – sowohl die bundesrepublikanische wie auch die der DDR – fragen, wie weit sie demokratisch ist, wenn die erste der Entscheidungen keine freiwillige ist. Eine Frage, die anhand der Analyse der „Flaschenpost Film“ (Dalichow) gut gelingen kann, hat doch gerade dieser immer wieder den Balanceakt zwischen künstlerischer Utopie und staatstragender Meinungsmache zu bewerkstelligen. Brauns Beschreibung von Utopia ist eine Erinnerung an eine von Kontinuität geprägte Stunde Null, in der viel zu schnell der Gegensatz zwischen Ost und West vor den zwischen gestern und heute geschoben wurde. In deren Schatten konnten auch Personen wie Milo Harbich schnell wieder aktiv werden. Kaum noch hatte dieser NS-Filme zusammengeschnipselt, drehte er als Regisseur bereits 1946 mit „Freies Land“ einen der ersten DEFA-Filme. In halbdokumentarischer Form, werden hier die Folgen des Krieges, wie die Potsdamer Filmhistorikerin Christine Mückenberger in ihrer Einleitung des Programmabschlusses betonte, ausnahmsweise einmal für die ländliche Gegend dargestellt. Der Film ist mithin der bemerkenswerte Versuch, Zeitgeschichte schon früh cineastisch aufzuarbeiten. Ob Personen wie Harbich dafür geeignet waren, bleibt fragwürdig.
Moritz Reininghaus
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