zum Hauptinhalt

Kultur: Vati, leg die Einwegspritze weg! Experiment „Fjutscher“ made in Obelisk

Fjutscher ist nichts für alternde Leute, sie haben keine. Fjutscher meint immer die Jungen.

Stand:

Fjutscher ist nichts für alternde Leute, sie haben keine. Fjutscher meint immer die Jungen. Deshalb ist es gerade wichtig, auf das zu hören, was „die heutige Jugend" über Fjutscher, ihre Lebenszeit, denkt. Kaum etwas wäre dafür geeigneter als eine Kabarett-Bühne. Auf ihr kann man seine Ängste lächerlich machen, lächerliche Zukunftsträume ernsthaft vortragen, man kann damit spielen – und dabei mehr vom Leder ziehen, als sich Erwachsene trauen.

Die Rede ist von der 2. Kabarett-Werkstatt-Woche der Robert Bosch Stiftung, die nach einem halben „Arbeitsjahr“ jetzt ihre Ergebnisse im „Obelisk“ öffentlich macht. Mit Unterstützung der drei Berufs-Profis Gretel Schulze, Helmut Fensch und Andreas Zieger und eines vierten, Mathias Wedel, lernten elf Schüler der Peter-Lenné-Gesamtschule und des Einstein-Gymnasiums Potsdam alles, was gute Brettler ausmachen soll: Texterfindung und -arbeit, Sprechunterricht, Dramaturgie, Darstellung. Für ihre Fjutscher kann das nur gut sein. Wenn man ordentlich dranbleibt, anfängliche Pointen vielleicht noch aggressiver setzt, hat man gute Aussicht, bis zum Bundesausscheid der Stiftung zu kommen.

Jetzt muss ihr Programm „No Fjutscher“ erst mal vor normalem Publikum bestehen. Der Grundeinfall des zweimal fünfzig Minuten langen Programms ist zwar nicht neu, aber sehr fjutschergemäß: Die muntere Truppe beamt sich per virtueller Zeitmaschine pfiffig in eine Zukunft, die sie meint. Zehn Minuten Obelisk-Zeit gleich fünf Jahre draußen. So lässt sich nicht nur jetzt schon das Ergebnis der nächsten Bundeswahl ausforschen, sondern noch ganz andere Sachen: Der Zuschauer wird Zeuge der „Ersten kapitalistischen Einheitspartei“ mit interessanter Bestückung, erlebt die Merkel noch 2028 als Bundeskanzlerin, erfährt, wie es sich an einem Mac Donalds-Gymnasium in spe lernt, an einer „Fast-Food-Uni“ studiert. Würde bis dahin der Bundestag wie ein Großbetrieb geführt, gäbe es keine Nebenbezüge, kein beliebiges Kommen und Gehen der Abgeordneten mehr, im Pleitefall wären sie bei der BfA nicht einmal vermittelbar!

Für diese Schüler ist 2039 unendlich fern. Sie extrapolieren nur ihr Heute für den Fall, dass es immer so weitergeht. Dann hat der Sohnematz vielleicht schon die ausgeflippten Eltern („Vati, leg die Einwegspritze weg!“) überholt, dann ist die Sache mit „Wiegenlied“ und Wegwerfbabys ganz normal, und ABC-Schützen finden in ihrer Schultüte alles, was man nach dem GAU zum Überleben braucht. Selbst ausgebuffte Feministinnen sehnen sich dann wieder nach handgreiflichen „Belästigungen echter Männer“, genau wie die mannstollen Weiber im Altenheim. Den Zuschauer erreichen starke Worte, ernste Drohbilder aus den jugendlichen Köpfen. No Fjutscher überall, wie soll der Nachwuchs reagieren? Mit richtig guten Parodien auf Politiker- oder Promi-„Schnauzen“ von Münte bis zur Klum, mit Biss und auch Verzweiflung, nur von der Brettl-Bühne leicht getarnt, mit Ehrlichkeit vor Freund und Feind. Vielleicht sollte man Wermut noch drauflegen. Ist ja ihr Leben, und wie alle zuvor, müssen auch sie das bittere Erbe ihrer Eltern annehmen. Sie sehen den Riss in der Welt, sehen, wie alles auseinanderfällt, und singen mit der Berliner Tele-Band: „Wir haben Fieber!“ Tim Zieger (piano) und Michael Kondourow (perc) sind ideale Musik-Begleiter in dieser kostüm- und verwandlungsfreudigen Zeitreise, auch das Saxophon macht seine Sache prima. So ist „No Fjutscher“ wenigstens für die Gegenwart gut.

Gerold Paul

Nächste Vorstellungen 21. April und 16. Mai im Obelisk.

Gerold PaulD

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })