Kultur: Verbales Blech
Die Kinder von Golzow im Filmmuseum
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Pünktlich zum 60. Geburtstag der DEFA wird noch einmal die älteste und viel gelobte Langzeitdokumentation „Die Geschichte der Kinder von Golzow“ von Regisseur Winfried Junge und Kameramann Hans-Eberhard Leupold in Erinnerung gebracht. Das Potsdamer Filmmuseum widmet dem Filmprojekt augenblicklich eine umfangreiche Ausstellung. Im Entree laufen auf Monitoren acht Filme verschiedener Zeitsegmente.
Zur Ausstellungseröffnung wurden die ersten sechs Teile vorgeführt. Zunächst: „Wenn ich erst zur Schule geh“ (1961), „Nach einem Jahr“ (1962) und „Elf Jahre alt“ (1966). Anmutige Kindergesichter, poetische Landschaftsaufnahmen, anrührende Bilder vom Dorfleben. Alles in Schwarz-Weiß. Die Kinder wirken natürlich, urwüchsig, unverkrampft und gutgläubig. Gefährlich gutgläubig. Das sozialistische Bildungsprogramm setzt auf allumfassende Indoktrinierung. Aufgefahren wird die Erschaffung der Erde nach der griechischen Mythologie. Zeus und Prometheus kommen in der Rede des Lehrers hochtrabend und kopflastig daher. Rieseln beziehungslos auf den Boden des Klassenzimmers wie märkischer Sand. Der Wille der Auftraggeber bleibt unübersehbar. Hier, wenigstens hier in tiefster Provinz, fernab von westlicher Dekadenz soll der schlichte Glaube Früchte tragen. Auch sollte es hier keine Abweichler geben, wie die Filmdokumentation glaubhaft vorzuspielen versucht. Eine Kirche und ein Gemeindepfarrer kommen in Golzow nicht vor, obwohl es sie gab. Nur eine kurze Einspielung von Glockengeläut und drei einsamen Kirchgängern mit Gesangbuch. Dafür lauter glückliche Pioniere, die alle frohgemut das Klassenziel erreichen.
Aber die Ausstellung, die in der Pause gezeigt wird, sagt auch anderes. Auf 18 Tafeln werden die Lebensläufe der beiden Filmemacher und der Kinder von Golzow in Stichpunkten vorgestellt. Urkunden, Kinderzeichnungen, Briefe und Fotos der verschiedenen Lebensstationen ergänzen die Biografien. Hier ist zu erfahren, dass ein Schüler die erste Klasse wiederholen musste und es auch Abweichler gab. Marieluise nahm nicht an der Jugendweihe teil, weil sie konfirmiert wurde. Das intelligente Mädchen erhielt auch keinen Oberschulplatz. Dafür die Lehrerstochter.
Nach der Pause die weiteren drei Filme: „Wenn man vierzehn ist“ (1969), „Die Prüfung“ (1971), „Ich sprach mit einem Mädchen“ (1975). In diesen Folgen bewegen sich die Jugendlichen längst nicht mehr so unbefangen vor der Kamera wie zu Kinderzeiten. Aber auch ihre pubertäre Verklemmtheit wirkt anrührend und authentisch. Weniger authentisch erscheinen die Lehrer. Ihre Reden sind aufgesetzt. Mehrfach zensiert. Vom inneren und äußeren Zensor zur Maske erstarrt. Erschreckend ist die unverfrorene Einflussnahme der Lehrer auf die Entscheidungen der Schüler. Dass das Gespräch von Winfried Junge mit einem Mädchen ausgerechnet mit der Abweichlerin Marieluise stattfindet, ist bemerkenswert. Wenn man diesen Zusammenhang auch nur aus dem Lebenslauf des Mädchens in der Ausstellungsvitrine erfährt. Erstaunlich, wie viel Lebendigkeit, Intelligenz und Ehrlichkeit das Mädchen dem platten moralisierenden Geschwätz des Filmemachers entgegenzusetzen hat. Dennoch ist das Filmprojekt ein wichtiges Zeitdokument. Das vieles aus der Jetztzeit noch einmal erfahrbar macht. Während in den frühen 60ern noch Aufbruchstimmung, echte Begeisterung und Utopisches durchschimmern, haben sich in den 70ern die Funktionäre bereits häuslich eingerichtet und produzierten illusionslos verbales Blech. Ohne Hoffnung. Hoffnungsvoll stimmt nur das Mädchen Marieluise, das ihre Sehnsucht nach einem sinnerfüllten Leben mutig einklagt. Nach Veränderungen sucht. Im Privaten wie im Gesellschaftlichen.
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