Kultur: Verfluchte Orte
Lesung mit Annie Mueller im Viktoriagarten
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Allerlei dunkle Mythen und Legenden ranken sich um ein Gehöft ganz am Rande eines thüringischen Dorfes. Vor langer Zeit, erzählt man sich im Dorf, soll eine Hexe diesen Ort verflucht und in Brand gesteckt haben, weshalb er auch die Brandstatt genannt werde. Eine ganze Familie sei damals dort verbrannt und auch später sei keiner mehr dort glücklich geworden, so Jan Pajak, der einzige Bewohner des abgelegenen Hofes. Allerdings gibt er wenig auf die alten rätselhaften Geschichten, wenngleich auch ihn mit dem Ort eine besondere verbindet.
Anousch Mueller präsentiert am Donnerstag in der Buchhandlung Viktoriagarten ihren Debütroman „Brandstatt“, in dessen Zentrum die 14-jährige Annie Veit steht: Während die Dorfgemeinschaft den Einsiedler beargwöhnt, fühlt sie sich von seiner geheimnisvollen Aura angezogen. Ungeachtet des Altersunterschieds und obwohl sie durch zuvor entdeckte Liebesbriefe weiß, dass ihre Mutter einst ein Verhältnis mit Pajak hatte, kommt Annie ihm immer näher und erlebt ihr erstes sexuelles Abenteuer. Die Liaison ist kurz und endet, als plötzlich die junge und leichtlebige Dorfschönheit Lydia vermisst wird und der Verdacht der Bewohner sich sofort auf Pajak richtet – der aber ebenfalls spurlos verschwindet.
Es ist ein sehr spannungsgeladener starker Auftakt, mit dem Muellers Roman (C.H. Beck Verlag, 18,95 Euro) startet. Ein Einstieg, der zugleich eine der unterschiedlichen Zeitebenen markiert, auf denen hier die Geschichte einer jungen Frau erzählt wird, die sich über Jahre hinweg von ihren Zwängen und der Pein unerfüllter, fehlgeleiteter Liebe zu befreien versucht. So werden im Verlauf der Handlung, in der sich auch ihre Familiengeschichte offenbart, die teilweise herrlich humorvoll gezeichneten Erinnerungen an eine typische Dorfjugend in den frühen 90er-Jahren geschickt abgelöst von den mehr skizzierten als ausgemalten Schilderungen und Gedankenströmen der Ich-Erzählerin, die nach der Jahrtausendwende in Berlin lebt und in Potsdam studiert. Dass „Brandstatt“ sich zudem so lebendig und unverkrampft präsentiert und der Text an keiner Stelle bemüht oder konstruiert wirkt, ist nicht zuletzt auch seinen autobiografischen Zügen zu verdanken: Nicht nur die thüringische Herkunft oder die spätere Leidenschaft für das Twittern teilt die Autorin mit ihrer Heldin. So wie Anousch Mueller, die von 2000 bis 2006 Jüdische Studien an der Universität Potsdam studierte, ist auch Annie Veit zu dieser Zeit dort Geschichtsstudentin und wissenschaftliche Hilfskraft, als sie auf einer Tagung im Alten Rathaus zum ersten Mal dem Referenten Leo Lawinky begegnet und sich in ihn verliebt. Doch derweil dieser oft zynische, überhebliche Mittelpunktmensch Nähe nur durch rauschhaften Sex zulässt, sich aber gegen eine ernsthafte Bindung sträubt, zerbricht Annie zunehmend an ihrem eigenen Gefühlschaos und ihrer Unterwürfigkeit. Bis sie eines Tages in Berlin plötzlich ganz kurz Jan Pajak wiedererkennt und nun damit beginnt, die Geheimnisse von damals aufzuklären.
Dass es Anousch Mueller in ihrem vielschichtigen Roman „Brandstatt“ immer wieder gelingt, diese anhaltende Spannung aufzubauen, ist beachtlich. So bleibt unter der Oberfläche dieser eigentümlichen und scheinbar so unbekümmert erzählten Geschichte stets eine dunkle Ungewissheit spürbar.
Daniel Flügel
Anousch Mueller liest am morgigen Donnerstag um 20 Uhr im Viktoriagarten, Geschwister-Scholl-Straße 10. Der Eintritt kostet 6, ermäßigt 4 Euro
Daniel Flügel
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