Kultur: Verhöre, Einzelzelle, Dunkelhaft
Lesung Christiane Dietzels: „Wen der Eisvogel ruft“
Stand:
Lesung Christiane Dietzels: „Wen der Eisvogel ruft“ Jedes Jahr erscheinen etwa 60 000 Buchtitel und es werden immer mehr – allem Film- und TV-Boom zum Trotz. Wer es sich leisten kann, nimmt sich heute einen Autor, um seine Erlebnisse oder was auch immer publiziert sein möge, aufzuschreiben. Es gibt auch die Möglichkeit, sich selber hinzusetzen und mit dem Schreiben zu beginnen. Ein Kleinverleger, der dem Buch die begehrte Internationale-Standard-Buch-Nummer, abgekürzt ISBN, gibt, findet sich immer. Wie soll man sich angesichts dieser riesigen Buchschwemme zurechtfinden? Mehr denn je ist der interessierte Leser auf Rezensionen und Lesungen angewiesen. Das Brandenburgische Literaturbüro und die Gedenkstätte gegen politische Gewalt in der Potsdamer Lindenstraße 54 hatten zu einer Lesung aus dem Buch „Wen der Eisvogel ruft“ eingeladen. Das im unbekannten Unikat-Verlag erschienene Buch ist das Debut der bislang nicht schriftstellerisch hervorgetretenen vierundsiebzigjährigen Christiane Dietzel. Was mag an diesem Werk dran sein, dass sich öffentliche Institutionen dafür einsetzen ? Die Autorin selbst nennt ihre autobiographische Geschichte bescheidenerweise einen „Erlebnisbericht“. Ihr Vortrag in der Gedenkstätte, dem ehemaligen Stasi-Untersuchungsgefängnis, betraf ihre Erlebnisse im Jahr 1946 als sechzehnjährige Inhaftierte im dortigen, damaligen Gefängnis des Sowjetischen Geheimdienstes, des NKWD. Nachdem Christiane Dietzel heimlich über die „Grüne Grenze“ gegangen war, um ihren Vater im Westen zu besuchen, der englischer Kriegsgefangener war, wurde sie bei ihrer Rückkehr von zwei sowjetischen Soldaten festgenommen und anschließend drei Monate lang in der Lindenstraße festgehalten. Wie es dort zuging, hörten die 14 anwesenden Zuhörer sehr detailliert. Verhöre, Einzelzelle und Dunkelhaft – das klang unheimlich genug. Es entsprach jedoch anderen veröffentlichten Beschreibungen von Gefängnisaufenthalten in Diktaturen. Christiane Dietzel wurde, so im Buch zu lesen, unschuldig inhaftiert. Durch ihre familiären Verstrickungen mit dem Nazi-Regime hatten die Sowjets wohl ein besonderes Auge auf sie geworfen. Die Lesung endete mit dem besonders bewegenden Bericht aus der Dunkelhaft. Dass dieses Erlebnis nur einen Bruchteil ihrer Lebensgeschichte ausmacht, ergibt sich allerdings erst aus dem gesamten Text. Nach ihrer Freilassung aus der sowjetischen Haft wurde Christiane Dietzel im Westteil Berlins in der Kantstraße erneut inhaftiert. Allerdings erfuhr sie, wie sie schreibt, im dortigen Gefängnis, das von einer Jüdin geleitet wurde, eine freundlichere Behandlung. Nach sechs Monaten kam sie frei und wurde als politischer Flüchtling nach Westdeutschland ausgeflogen. Christiane Dietzels Buch erweist sich als eloquenter, durchaus interessanter „Erlebnisbericht“, doch damit, was Literatur über die Erzählung der persönlichen Geschichte hinaus bedeuten kann, hat er nichts zu tun. Das Buch ist ein weiteres Indiz für die gegenwärtige Tendenz zur postmodernen Auflösung des literarischen Kanons. Dieses Phänomen, sofern ihm ein pluralistisch-demokratisches Verständnis zu Grunde liegt, verlangt vom Leser mehr Reflexion und mehr kritische, eigene Entscheidungen als zuvor. Babette Kaiserkern
Babette Kaiserkern
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: