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Kultur: Verkörperte Quälerei

Tanztage: Zero Visibility Corp. mit „(but) that night I found her very alluring“

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Geschichten stören meist beim modernen Tanz, wie er auf den Tanztagen in der fabrik gezeigt wird. Geschichten wollen erklären, um was es geht. Damit stehen sie zwischen dem Tänzer, der sein Inneres preisgibt, und dem Publikum und blockieren die direkte Seelensicht. Geschichten findet man bei der norwegischen Choreografin Ina Christel Johannessen demnach nicht. Eine Stunde lang sind die Zuschauer einer nach außen gekehrten Innerlichkeit ausgesetzt, die hoch assoziativ, aber niemals richtig erklärend sein will. Der Titel des Stücks weist sacht auf das Kommende hin. „(Aber) diese Nacht fand ich dich nicht besonders reizvoll“ deutet bereits auf eine düstere Seelenqual hin. Melancholie. Für den ausverkauften Saal ziemlich schwere Kost, die aber Dank der schon geschulten Seherfahrung der meisten mit kräftiger Anerkennung aufgenommen wurde.

Johannessen verfolgt den Ansatz der trockenen Reduktion. Opulente Bilder oder monumentale, ästhetische Bewegungsabläufe findet man bei ihren Aufführungen selten. Die Bewegung als kleinste Einheit ist der Baustein, der zählt und im Vordergrund steht. Diese Bausteine werden in dichter Folge zu einem Ganzen zusammengefügt. Der Verzicht auf eine Hierarchie zeigt sich schon darin, dass mit Line Tørmoen nicht eine Solotänzerin von drei weniger wesentlichen Protagonisten begleitet wird, sondern dass das Stück konsequent von vier gleichberechtigten Figuren getanzt wird. Spärlich bis zur Negation sind die Momente der Interaktion zwischen ihnen. Das Bühnengeschehen ist im ganzen Raum verteilt, der Betrachter wird gezwungen, sich auf einen Bereich zu konzentrieren. Er soll sich visuell überfordert fühlen.

Zunächst sitzt Tørmoen auf einer orangefarbenen Chaiselongue, der schmale Oberkörper entblößt, und hält einen ausgestopften Uhu im Arm. Das Symbol für Weisheit und Klugheit. Die Pose der Tänzerin erinnert an Rodins Skulptur „Der Denker“. Dann setzt eine Musik ein, die einige der Zuschauer hinterher, als in der „Zuschauerschule“ das Stück mit der Choreographin noch analysiert wurde, als sehr dominant beschreiben. Der mexikanische Komponist Murcof ist ein Klangbastler, der elektronisches Knistern, Knacken und Sägen zu einer äußerst beunruhigenden Klangassemblage konzentriert. Dazu wirkt Tørmoen mit Tütü und Boots selbst ein bisschen wie eine Eule, ein Vogelmensch. Zunächst die schwarzen Haarkringel zu beiden Seiten des Kopfes, wie Eulenohren. Dann ihre Vogelbewegungen, scheu, den Blick immer ernst von unten nach oben gerichtet. Bewegungsroutinen erinnern an Maschinenwesen, deren Extremitäten von einem Uhrwerk angetrieben sind. Alles in Tørmoen ist gedrängt und angespannt. Ihre Performance ist auch die eindrucksvollste des Abends. Die verkörperte Quälerei. Ganz groß: Wie sie mit gebeugten Schultern und verkrampften Eingeweiden eine weiße Flüssigkeit auswürgt. Ein Ekelelement, das sehr direkt die Empfindungen des Publikums stimulierte. Beim Tanz um einen kleinen Kreisel, der aus einem scharfen Sägeblatt geschmiedet ist, zeigt Tørmoen ihr großes Potential der Verletzlichkeit.

Um das getriebene Mädchen, das später von einer Art Horrorkabinett aus Spiegeln und Drähten umgeben ist, tanzen drei andere. Das Mädchen in schwarzen Shorts und weißem Oberteil durchpflügt in immer wiederkehrender Manier die beiden Bühnenseiten, auf denen herausgerissene Buchseiten den Boden bedecken. Es räkelt und wälzt sich im Papier, und ihre Kreise lassen es laut rascheln. Die zweite Tänzerin trägt ein einfaches schwarzes Kleid. Sie schreibt Worte auf Arme und Beine, „Act“, „Call“ und „Recall“, die aus dem Sinnbereich der Erinnerung stammen. Eine Blonde in hellem Beige kuschelt mit einem Pelz und fegt mit ihm den Blätterboden frei.

Ina Christel Johannessen findet mit diesem Stück eine intensive Körperform für den abstrakten Begriff der bis an den Schmerz gehenden Melancholie. Die Außenwelt, die aus diesem Labyrinth führen könnte, die Welt des Logos, des Verstandes, ist zum Greifen nahe, und bleibt trotzdem unerreicht. Matthias Hassenpflug

Matthias Hassenpflug

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