Kultur: Verlockung
Schauspieler Bernd Geiling las Marcel Proust
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Literatur kann Lockung sein: Wenn man sie irgendwo hört, möchte man sie auch lesen. Solcherart Anmutung kann einem hin und wieder bei einer Lesung im Garten, in einer Druckerei oder in der Stadt- und Landesbibliothek am Platz der Einheit geschehen, eine Schatzkammer an Geist und an Geistern. Auch in neuer und viel modernerer Gestalt will man in ihr mit seinen Pfunden wuchern, mit Veranstaltungen werben, mit Büchern gute Dienste tun. Im Gegensatz zu öffentlich-rechtlichen Anstalten nimmt sie ihren Bildungsauftrag ja noch ernst, und beim Wort. Wuchern kann sie zum Beispiel mit einer Dauerleihgabe des Moses-Mendelssohn-Zentrums in Sachen Walter Boehlich (1921-2006), seines Zeichens Literaturkritiker, Übersetzer, Herausgeber, Essayist und Lektor beim Suhrkamp-Verlag. Eine umtriebige, vielseitige Figur jüdischer Herkunft und Denkart, belesen wie nur was, in Bücher geradezu vernarrt, und sehr engagiert, wenn es darum ging, wenig bekannte Autoren auf ihre Throne zu heben, Marcel Proust zum Beispiel.
15 000 Bände aus Boehlichs Nachlass-Bibliothek stehen seit September in der Bibliothek, 100 davon allein von oder über den Franzosen Proust. Weil sich die Vollendung des ersten Bandes „In Swanns Welt“ seiner „Suche nach der verlorenen Zeit“ eben nun zum 100. Mal jährte, veranstaltete die Bibliothek am Mittwoch eine Lesung, welche die Ehrung Boehlichs mit dem Werk von Marcel Proust (1871-1922) aufs Glücklichste verband. Helen Thein führte in die Editionsgeschichte der siebenbändigen „Suche nach der verlorenen Zeit“ ein, der Schauspieler Bernd Geiling vom Hans Otto Theater las Passagen aus dem zweiten und dritten Band des mehr als 4000 Seiten umfassenden Werks.
Der Lesung vorangestellt wurde ein längerer Aufsatz, den Walter Boehlich im Zusammenhang mit der Neu-Übersetzung Prousts durch Eva Rechel-Mertens Mitte der Fünfzigerjahre schrieb. Großes Lob für die Übersetzung, ein größeres für den Autor, der ja nicht sieben Romane schrieb, sondern einen in sieben Büchern. Darin geht es um den Ich-Erzähler Marcel und seine Fähigkeit, verlorene, also vergessene Lebenszeit, durch ein gigantisches Eingedenken zurückzuholen und für sich wieder handhabbar zu machen. Auf höchstem Denk- und Sprachniveau führt er den Leser durch Bürgerstuben, in Salons, zu Adligen, auch in Theater und Ausstellungen des Fin de siècle, reflektiert auch seine Familie tiefgründig, also sich selbst in seinem Werden, Vergessen und Wiederfinden. Prousts gigantisches Zeit- und Innenpanorama ist so konstruiert, dass der Erzähler zuletzt dort ankommt, wo alles begann.
Dass nun Bernd Geiling ein ganz herausragender Vorleser ist, dürfte den Potsdamern nicht neu sein. Mühelos trug er die manchmal ellenlangen Perioden des Autors vor, einfühlsam, wohltemperiert, überzeugend. Eine lockende Verlockung eben. So schön Prousts Sprache anzuhören ist, so wundervoll versteht er, das Porträt dieser Großmutter zu zeichnen, von der es ja heißt, er habe in Wahrheit seine Mutter gemeint. Hohe Erzählkunst, ganz wunderbar. In den Sechzigerjahren hatte Boehlich ja den Briefwechsel zwischen Sohn und Mutter publiziert. Er übersetzte von Hermann Bang bis Victor Jara alles, was ihm bewahrens- und empfehlenswert schien. Die mehr oder weniger klugen Intellektuellen Frankfurts hielten ihn für ein wandelndes Lexikon. Wer nicht las, galt bei ihm nicht, wer etwas nicht wusste, bekam damals zu hören: Schlag nach bei Boehlich! Gerold Paul
Gerold Paul
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