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Kultur: Verwirrspiel
„Woyzeck“ im „nachtboulevard“
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Es ist die Metamorphose, die sich da vorn vollzieht, das Ende der Verpuppung, die Entstehung der menschlichen Art. Peter Wagner, ehemaliges Ensemblemitglied des Hans Otto Theaters, ist als Regisseur mit seiner Interpretation von Büchners „Woyzeck“ zu Gast im „nachtboulevard“. Für das Stück, das zu einem der meistgespielten und einflussreichsten Bühnenwerke deutscher Theatergeschichte zählt, hat er seine fünf Schauspieler eng in Frischhaltefolie gewickelt.
Übereinander liegen sie auf dem als Bühne funktionierendem und absolut leerem Boden, zu Füßen des jungen Publikums. Sie wälzen sich, setzen sich auf, entpuppen sich, murmeln Sätze. Es sind große Sätze, die sie da sagen, über die Natur, das Denken und den menschlichen Abgrund. Worte, die die Themen des Abends aufzeigen und die in ihrer Bedeutungshaftigkeit längst nicht dem Entwicklungszustand ihrer Träger entsprechen, sind diese doch gerade erst am Anfang der Menschwerdung.
Als sich aus der eben begonnenen Entwicklungsgeschichte des Menschen plötzlich die Rasierszene von Büchners „Woyzeck“ herausschält, wird klar, dass Peter Wagner hier zwei Themenstränge nebeneinander herlaufen lassen wird. Anhand von Franz Woyzeck und seiner Freundin Marie, deren uneheliches Kind Woyzeck an Vaters Stelle aufzieht, und der, von Marie betrogen, mit inneren Stimmen kämpft, die ihn auffordern, diese zu erstechen, wird das Stück die Fragen nach Tugend und Moral, Verstand, Lust und Instinkt aufwerfen und gegeneinanderstellen. Die Schauspieler, alle in beinahe hautfarbenen Trikots auf das Wesentlichste – den menschlichen Körper – reduziert, werden ihre Rollen willkürlich und ohne Rücksicht auf das passende Geschlecht verlassen und in die nächste schlüpfen, werden sich im Kreis bewegen und Franz sein, dessen Freund Andres oder der Hauptmann, dessen Laufbursche er ist, werden in der Rolle des Tambourmajors lüstern und geifern und als Marie schließlich zum Ehebruch gebracht werden, oder als Arzt an Franz’ Gesundheit herumpfuschen, ihn auf Erbsendiät setzen, sozusagen im Dienste der Wissenschaft.
Und während sie als die Figuren aus „Woyzeck“ auf der Leiter der menschlichen Entwicklung doch schon so weit oben stehen, lässt Peter Wagner sie gleichzeitig noch ganz am Anfang sein. Lässt sie miteinander philosophieren, während sie sich gleichzeitig lausen, kratzen, selber streicheln, stöhnen, sabbern, kreischen oder triebhaft umeinander schleichen. Mit Hilfe dieser Dramaturgie, die derb, geschickt und klug ist, wirft der Regisseur die Frage auf, was der Mensch denn sei, stellt Kognition und Reflexion der Begierde und den Instinkten gegenüber. Der Regisseur liest aus Büchners „Woyzeck“ nicht nur die Geschichte eines Ehebruchs und eines Mordes, sondern kristallisiert auch die Frage nach den Interpretationsansätzen der menschlichen Existenz heraus.
Peter Wagners „Woyzeck“ ist gehaltvoll und intelligent inszeniert, lebt von der Spielfreude der jungen Schauspieler, die mit ihrer lebhaften Mimik ihre kleinen Intonationsdefizite wettmachen, und sorgt höchstens ganz am Ende für eine kurze Irritation, bietet es doch zwei Versionen an – den Mord als ursprünglichen Schluss und dann, in der Wiederholung, der Versuch des Verzeihens. Vielleicht als ein Hoffnungsschimmer im Verwirrspiel um die menschliche Existenz.
Andrea Schneider
Andrea Schneider
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