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Kultur: Viel Platz für eine Jugendbewegung

Verschmäht und gefeiert: Konzert mit Bernd Begemann und Kettcar im Lindenpark

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Verschmäht und gefeiert: Konzert mit Bernd Begemann und Kettcar im Lindenpark Das, was sich zwischen dem allergrößten Teil des Publikums und Bernd Begemann am Freitag im Lindenpark abspielte, war wohl ein klassisches Missverständnis. Begemann, über die letzten 20 Jahre immer knuffiger Monsieur-100 000-Fischbrötchen aus Hamburg, auch in Potsdam für bis zu drei Stunden lange Wunschkonzerte bekannt, ist nun mal keiner, der als Vorband taugt. Vor allem nicht, wenn die Jungs und Mädchen zu jung sind, um seinen Verlierer-Charme von Hochnäsigkeit zu unterscheiden und nur auf kettcar warten. Kettcar sind fünf Hamburger Jungs, deren Indie-Pop Ergebnis einer mehrjährigen Metamorphose ist, die als Punkformation „But Alive“ startete und auch Skaversuche umfasste. Der volle Lindenpark verstand sich einfach nicht mit Bernd, der seine Ruhe sichtbar verlor und sein Heil in Up-Tempo Nummern suchte, wo er doch so zart, still und rührend sein kann. Nur Bernd und die Gitarre. Stattdessen sah er sich genötigt provokant in die Menge zu fragen: „Könntet ihr bitte die Unterhaltungen über Diskettenformatierungen einstellen?“ Das hatte schon etwas Selbstzerstörerisches. „Halt“s Maul und spiel!“ schall es ihm zuweilen entgegen. Das hatte er nicht verdient. Begemann kündigte seinen Beitrag zur Wissensgesellschaft, das pädagogisch wertvolle Stück „Judith, mach deinen Abschluss“, dann auch mit persönlicher Ansprache an. Der „Entertainer der Herzen“ zeigte auf einen der Querulanten aus der kettcar-Fraktion und spottete: „Gerade du, junger Mann, hast es bitter nötig.“ So gewinnt man keine Freunde, vielleicht – weil man auf solche auch verzichten kann. Warum tut sich Begemann so etwas an? Sicher, weil er das junge Label „Grand Hotel van Cleef“ unterstützen will, das seine subtilen Loser-Liebesschmerz-Lieder genauso vertreibt wie kettcar, den Hauptact des Abends. Kettcar gilt zur Zeit überall als das ganz große Ding, das – natürlich – ganz wahnsinnig anders klingt als alles je Gehörte. Die Menge beginnt zu wallen, und, obwohl die neue Platte mit dem schrulligen Namen „Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen“ erst Anfang März erscheinen wird, können fast alle die Lieder schon mitsingen. Parolenhafte Hymnen liefert kettcar, Schrulliges mit schrulligen Texten. Da heißt es in „money left to burn“: „Das schlechte Gewissen. Der sterbende Schwan, es ist alles erledigt nach dem was wir sahen, als ob wir anders wären.“ Da ist viel Platz zwischen den Zeilen, so viel, dass eine ganz Jugendbewegung erfunden und hineingestopft werden könnte. Was die Zeilen von Sänger Marcus Wiebusch nicht bieten, ist jedoch Poesie, ein Umstand, der eine frappierende Gemeinsamkeit mit dem Werk von Wolfgang Petri aufdeckt, bei dem zu holpernden Allaussagen auch gerne die Hände in die Luft gereckt werden während man sich beim Mitsingen gut aufgehoben fühlt. „Mach immer, was dein Herz dir sagt“, stammt aber wirklich aus dem Lied „48 Stunden“ von kettcar. Der vom Punk stammende, zuweilen auch härter klingende Allerweltsrockpop von kettcar, durch dessen Geschwurbele zur Unterscheidung ab und an eine eingängige Phrase vom Keyboard dringt, unterstützt eine dem Intellekt eher abgeneigte Protest-Haltung. Aus ihr spricht: „Wir sind ein bisschen anders und auf jeden Fall dagegen.“ Ein bisschen Protest ohne Überzeugung, ein bisschen Rowdy-Attitude – ganz so wie die lieben Kleinen, die in ihren Tretautos, den kettcars, auch schon den Großen nacheifern wollen, und dabei den Erwachsenen hupend über die Füße fahren. Im Lindenpark kam das gut an. Matthias Hassenpflug

Matthias Hassenpflug

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