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Ohne Chor. Beim Abschlusskonzert der Potsdamer Bachtage in der Französischen Kirche verzichtete Björn O. Wiede (am Cembalo) bei den kleinen Messen auf einen Chor, was nicht immer überzeugte.

©  Manfred Thomas

Kultur: Vier Solisten und ein Klavier

Zum Abschluss der Bachtage das „Wohltemperierte Klavier“, kleine Messen und Kantaten

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Warum Gelungenes nicht wieder verwerten? Der Leipziger Thomaskantor war darin ein Meister, der bei neu zu schaffenden Vokalwerken gern auf Vorhandenes Notenmaterial zurückgriff. Parodieverfahren nannte man das damals. Nicht nur die Kantaten des Weihnachts-Oratoriums können davon ein Lied singen, sondern auch die sechs kleine Messen. Sie wurden vermutlich vom böhmischen Reichsgrafen Franz Anton von Sporck in Auftrag gegeben und waren für den liturgischen Gebrauch bestimmt. Schnell musste es gehen, und so durchstöberte Bach seinen Kirchenkantatenschatz. Von solcher Zweitverwertung kündete das Abschlusskonzert der Bach-Tage am Samstag in der rappelvollen Französischen Kirche am Bassinplatz auf eindrucksvolle Weise.

Dabei hatte Björn O. Wiede die Messen g-Moll BWV 235 und G-Dur BWV 236 mit der Kantate Nr. 102 „Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben“ in klingenden Zusammenhang gebracht. Deren Eingangschor findet sich als Kyrie in der g-Moll-Messe wieder. Aus anderen Kirchenkantaten sind weitere Teile verarbeitet worden. Es fällt auf, dass nur das Kyrie und Gloria vertont sind. Weitgehend nach gleichem Schema: das Kyrie ist traditionell dem Chor anvertraut, die Gloria-Einleitung ebenfalls, der eine Bass-Arie folgt. Den Rest dürfen sich die anderen Solisten teilen, bevor es zum chorischen Amen-Schlusspunkt kommt.

Doch ein Chor ist weit und breit nicht zu sehen, obwohl ihn die Besetzung laut Wolfgang Schmieders Werkverzeichnis ausweist. Dafür übernehmen die vier Solisten die chorischen Aufgaben. „Bach kannte und brauchte für die Aufführung seiner kunstreichen Vokalmusik keinen Chor“, behauptet Wiede im Programmheft. Was danach fragen lässt, wozu der Thomaskantor eigentliche seine Thomasschüler benutzte?! Nun also mühen sich die Solisten um gemeinschaftliches Singen, was ihnen nicht sonderlich überzeugend gelingt. Quartett oder Chor: das ist hier die Frage, denn die Aufgabenverteilung wird nicht deutlich genug hörbar. Immer wieder tönt die Sopranistin Heidi Maria Taubert vorlaut hervor, während sich die anderen wenigstens um gemeinsame Zurückhaltung, Homogenität und Flexibilität bemühen. Doch bleibt’s leider nur bei einer Imitation

Alle Vier mögen jedoch die instrumentale Stimmführung mit objektivierender Vortragsweise, die sie in ihren Soli imponierend vorführen. In der Kantate sind die Rollen dagegen klarer verteilt, ist der Ausdruck intensiver und affektreicher. Wovon Altus David Erler in der intonationstückischen und von der Oboe begleiteten Arie „Weh der Seele“ genauso plausibel und packend kündet wie der Tenor Lothar Blum in der Arie „Erschrecke doch“, die Geiger Wolfgang Hasleder virtuos und glanzvoll umspielt. Der Tenor erweist sich als ein hell klingender und lyrisch geprägter Vertreter seiner Zunft. Voluminös tönt Bassist Matthias Lutze, dessen nasale Vokal- und Konsonantenfärbung stark an die Sangeskunst eines Theo Adam erinnern. Allen gemeinsam ist, dass es konturenklar, intonationssicher und geschmeidig aus koloraturenversierten Kehlen tönt.

Denen steht das klein besetzte Instrumentalensemble „Exxential Bach“ in nichts nach. Vom Cembalo aus setzt Björn O. Wiede die Impulse seiner wie stets analytisch geprägten Wiedergabe, um die sich fünf Streicher und zwei Oboen mit frischem und lebendigem, federndem und klangtransparentem Musizieren erfolgreich bemühen. Peter Buske

Wohl kein Klavierschüler ist am Wohltemperierten Klavier von Johann Sebastian Bach vorbeigekommen. Es gehörte zum Grundstudium großer Komponisten wie Mozart, Beethoven und Schumann. Kein Wunder, schließlich gibt es keine andere Sammlung von Kompositionen, die das System der wohltemperierten zwölf Tonarten, auf dem die symphonische Musik basiert, so vorbildlich zeigt wie diese.

Bei den Bachtagen Potsdam gab es jetzt Gelegenheit das „Alte Testament“ des Klavierspiels, wie der Dirigent Hans von Bülow das „Wohltemperierte Klavier“ bezeichnete, vollständig anzuhören. Der Pianist Gianluca Luisi präsentierte am Freitag alle 24 Präludien und Fugen aus dem ersten Band im IHK-Forum. Bewundernswerterweise spielt er alles auswendig und verliert selbst in den vertracktesten, bis zu fünfstimmigen Fugen nicht den Faden. Allerdings macht er recht großzügig vom Pedal Gebrauch, wenn auch meistens auf dezente Weise. So mildert er manch tonale Härte und erzeugt einen weichen Klang, der gut zum Bechstein-Flügel passt. Das ist natürlich alles andere als Original-Klang, doch spricht es für den Komponisten, wenn sein Werk noch über Jahrhunderte hinweg und auch mit anderen Instrumenten und Spielweisen gut klingt.

Gianluca Luisi, einer der herausragenden italienischen Pianisten unserer Zeit, beginnt mit dem C-Dur-Präludium, das zumindest in der Fassung als Ave Maria-Fassung in den Top Ten der Klassik-Hits angekommen ist. Wie auf einer Perlenschnur folgen die Fugen und Präludien in der Reihenfolge der Halbtonstufen auf der Tonleiter, wobei jeweils zuerst der Modus in Dur und dann in Moll erklingt. Neben einfachen Tonarten wie C-Dur, G-Dur oder a-moll verwendet J. S. Bach so entlegene wie Cis-Dur, gis-moll oder b-moll, allerdings nur hier. Sonst kommen solche Tonarten mit vielen Kreuzen und B-Zeichen an keiner anderen Stelle seines Werks noch einmal vor. Entscheidend ist allein die strenge Systematik, die dem Klavierschüler Harmonien und Kompositionskünste auf der Höhe der damaligen Zeit zeigen sollten. Trotz der ausgesprochen didaktischen Vorgaben gelingt es Bach immer wieder, die intellektuelle Pflicht des Kontrapunkts mit der Kür des musikalischen Einfallsreichtums zu versüßen.

Vor allem die freieren Präludien bestechen häufig mit poetischen Einfällen und es zeigt sich dabei auch, wie viel Frédéric Chopins Préludes diesen kleinen Charakterstücken verdanken. Bei nicht wenigen Präludien ist der Einfluss von Bach auf den polnischen Klaviervirtuosen spürbar präsent. Interessanterweise verleiht Bach auch dem im Grunde trockenen Fugen-Stoff vielfältige, unterhaltsame und klangvolle Aspekte. Dabei spielt neben Harmonie und Rhythmus die Mathematik immer wieder eine Rolle. Schon die erste Fuge C-Dur basiert auf einem Thema in 14 Tönen, was wiederum die Summe der Zahlen der Buchstaben B-A-C-H ergibt. Nicht nur hier verknüpft sich Kopf mit Bauch, Geisteskraft mit Hörgenuss voller Abwechslung und Klangfülle. So folgt auf eine knackige vierstimmige Fuge pathetica im französischen Stil etwas später ein dreistimmiges Ricercar in gemessenen Dreier-Schritten. Mehrere Tanz-Präludien erinnern an französische Suiten-Künste und die in Fis-Dur verkündet gar schon galante Delikatessen. Die Tanz-Fugen springen munter dahin, wobei hier und in den vier- bis fünfstimmigen pathetischen Fugen die Tonarten zunehmend aufgelöst werden. Gianluca Luisi spielt das Bachsche Wunderwerk großartig und klangvoll, wobei die Geisteskraft der Technik und Klangkultur nicht nachsteht. Babette Kaiserkern

Peter Buske

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