Kultur: Villa Quandt: Gedenken an Kempowski
Der literarischen Welt samt ihrem Begleit-Feuilleton gefällt es derzeit, Autoren in „theoretische“ und „kulinarische“ einzuteilen. Nach dieser seltsamen Skala wird Walter Kempowski wahrscheinlich zu den „essbaren“ gehören, der studierte Pädagoge war ja tatsächlich eher beschreibend als reflektierend veranlagt.
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Der literarischen Welt samt ihrem Begleit-Feuilleton gefällt es derzeit, Autoren in „theoretische“ und „kulinarische“ einzuteilen. Nach dieser seltsamen Skala wird Walter Kempowski wahrscheinlich zu den „essbaren“ gehören, der studierte Pädagoge war ja tatsächlich eher beschreibend als reflektierend veranlagt. Seine mehrbändige „Deutsche Chronik“ zeigt das ebenso wie „Echolot“. Am Sonntag erinnerte das Brandenburgische Literaturbüro mit einer Lesung an seinen Tod im vorigen Jahr.
Weil sein langjähriger Lektor Karl Heinz Bittel als Gesprächspartner verhindert war, stellte Hendrik Röder ein eigenes „Vorwort“ an den Beginn der Veranstaltung, Ulrich Anschütz damit Gelegenheit gebend, das interessierte Publikum ausführlicher in die komplexe Materie zu führen. Die Auswahl war ihm überlassen. Doch ach, war der Büro-Chef bestens präpariert, so schien der Mann vom Maxim Gorki-Theater Berlin mit Kempowskis „Somnia. Tagebuch 1991“ wenig anfangen zu können. Er will zwar „unheimlichen Spaß beim Sortieren“ der Jahres-Chronik gehabt haben, verzichtete aber darauf, ein paar inhaltliche oder personelle Fäden zu knüpfen. So las er jeweils den Eintrag vom Monatsersten, Januar bis Dezember. Besonders kann ihn das auch nicht entzündet haben, sein Vortrag blieb sachlich, man spürte wenig Engagement.
„Somnia“ ist das letzte Werk von Kempowskis eigener Hand. In lockerem Stil berichtet der 1929 in Rostock Gebürtige von Tagesereignissen politischer, kultureller und familiär-persönlicher Art. Jeder Erste beginnt mit einem offiziellen Eintrag, oft der DDR „gewidmet“: Pioniergeburtstag, Tag der Volkspolizei, der Grenztruppen, oder „Weltfriedenstag“. Dann folgen Einträge über neidische Kollegen, ganz souveräne Notizen über politische Dinge, die keine „Korrektnis“ brauchen, weil er sich in einer „feindlichen Umwelt“ weiß, oder früher als andere sagte, die 68er hätten „alles kaputt gemacht“. Das steht fast visionär für sich. Es ist ja die besondere Art, wie er scheinbar Unzusammenhängendes auf einen Geistnenner bringt, „Montage – oder Collagetechnik“ nannte das Röder.
So muss sich auch Anschütz nicht grämen, der eigne Kopf „sortiert und montiert“ schon, was er in der Villa Quandt an Wahrem und Traumhaftem, an innerer Biografie und Hoffnung vorgetragen hat. Seitenhiebe gegen Eva Strittmatter („wem wohl der Hof gehört, auf dem ihr Gatte Pferde züchtet?“), Notizen über Asylanten und „Balkanesen“, über den „Musterknaben Wallraff“ und Vertriebene, die sein Werk ignorierten, Nachdenkliches (eben visionär) zum modernen Stand bundesdeutscher Pädagogik, über unmusikalische Hofhühner und das „Gedös von Potsdam“, 1991! Und irgendwo dazwischen heißt es plötzlich „Schäme dich, von wegen Chronist!“
Er machte sich in seinem Todesjahr keinerlei Illusionen: „Man darf ja auch heute nicht seine Meinung sagen in Deutschland. Versuchen Sie das doch mal! Ein Schritt vom Wege, und Sie sind erledigt“. Dies alles mit einem lakonisch-bissigen Ton. Sperrig, setzend, sympathisch – Kempowskis Tagebücher reden Tacheles. Keine kulinarische Lektüre, herrlich.
Gerold Paul
Gerold Paul
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