
© HL Böhme/HOT
Das Kulturjahr in Potsdam: Vom Glück der Kunst
Ein etwas anderer Rückblick auf das kulturelle Jahr 2013 in Potsdam
Stand:
Es war ein Freitagabend, Ende Mai, der etwas ausgelöst hat. Im Hans Otto Theater war gerade die Premiere der „Minna von Barnhelm“ über die Bühne gegangen. Danach stand man noch ein paar Minuten in der Dunkelheit vor dem Theaterhaus am Tiefen See und ließ nachwirken, was die Schauspieler in den vergangenen Stunden gezeigt hatten. Lessings Lustspiel als herrliche Klamotte, in der aber immer wieder auch so klar und deutlich die Zerrissenheit der menschlichen Existenz zwischen Wirklichkeit und Anspruch, zwischen Wollen und Können aufblitzte. Ein lustvoll und in seinen besten Momenten grandios agierendes Ensemble war zu erleben gewesen. Und wie man dort stand, in dieser milden Maidunkelheit, war da auf einmal ein großes, alles ausfüllendes und so befriedigendes Glücksgefühl zu spüren.
Kunst, die glücklich macht? Im besten Falle ja. Kunst, die etwas auslöst, weil sie bewegt, weil sie verstört und bewusst vor den Kopf stößt. Kunst, die wütend oder ratlos macht, manchmal mehr Fragen aufwirft, als dass sie Antworten gibt. Kunst, die aber auch einfach nur unterhält und einen schlicht verzaubern kann. Immer aber, selbst wenn man nicht mit allem einverstanden ist, kann sie etwas Glück geben. Wenn man sich auf sie einlässt. Wenn man ihr Wertschätzung entgegenbringt.
Es war dieser Gedanke der Wertschätzung, den das Glücksgefühl an diesem Freitagabend im Mai in einem ausgelöst hat. Eine an sich banale Erkenntnis. Aber weil sie scheinbar so banal, so selbstverständlich ist, verliert man sie allzu oft aus dem Blick. Dieses Bewusstsein für die Wertschätzung hat einen dann begleitet durch das restliche Potsdamer Kulturjahr. Hat einen oft genug zurücktreten und genauer hinschauen lassen. Es hat den Blick geschärft und einem klar gemacht, wie wichtig und wertvoll das ist, was in Potsdam an Kultur geboten wird.
Da sind die Musikfestspiele Potsdam Sanssouci, die sich in diesem Jahr unter dem Motto „Skandinavien“ in den hohen Norden gewagt haben. Ein anspruchsvolles und überraschendes Programm. So, wie man es von den Veranstaltern seit Jahren gewöhnt ist. Wie man es Jahr für Jahr immer wieder auch so erwartet und fast schon als etwas Selbstverständliches wahrnimmt. Doch dann sitzt man wie jedes Jahr in der Ovidgalerie und darf das Hathor Consort mit seinem John-Dowland-Programm erleben, ein paar Tage später dann Elizabeth Kenny und Jacob Heringman auf Lauten ebenfalls mit John Dowland und ebenfalls in der Ovidgalerie. Und bei beiden Konzerten ist da dieses Glücksgefühl. Ein Glücksgefühl, nicht nur weil man den besonderen Wert des Moments erkennt, in dem diese Musik von herausragenden Künstlern gespielt wird und ihre Wirkung entfaltet. Sondern weil man sich auch bewusst macht, welcher Aufwand und welche Arbeit, wie viel Organisation und wie viel Enthusiasmus nötig sind, um solche Momente erlebbar zu machen.
Oder „Localize“, das Heimatfestival, das seit sechs Jahren in dieser Stadt für ein paar Tage Orte wieder ins Bewusstsein ruft, die vergessen oder in gewisser Weise nicht bewusst beachtet werden. In diesem Jahr hatte das Team um Anja Engel und Peter Degener den ehemaligen Bahnhof Pirschheide mit Kunst und Musik, Theater und Diskussionen belebt. „Localize“ selbst als eine Art Spiel mit dem Bewusstmachen von Vergangenem, in dem auch ein Bewusstsein für Wertschätzung an dieser Stadt mitschwingt. Und das alles erdacht und geplant, organisiert und durchgeführt auf ehrenamtlicher Basis. Weil es Menschen in dieser Stadt gibt, die sich von ihrem Enthusiasmus tragen lassen und dann andere mit ihrer Kunst beglücken.
All die zahlreichen Ausstellungen in den kleinen und großen Galerien dieser Stadt, die in ihrer Vielfalt ein so prächtiges, farbenfrohes und bereicherndes Kulturbild liefern. Die große Sprotte-Retrospektive im Potsdam Museum am neuen Standort im Alten Rathaus oder „Das Glück des Sammelns – Werke aus privatem Kunstbesitz“ im „KunstHaus“. Rainer Sperl, der neben seiner Galerie im Nikolaisaal nun auch Räume in der Fachhochschule unter dem Titel „Schaufenster Sperl“ bespielt. Die Villa Schöningen, „sans titre“, das Kunst-Kontor und die vielen anderen sind nicht nur Orte, an denen Kunst betrachtet und genossen werden kann. Es sind auch Orte, an denen man über Kunst ins Gespräch kommt. Und es überrascht, erheitert und bestätigt einen in seinem geschärften Bewusstsein für die Wertschätzung, wenn in einem solchen Gespräch ein gestandener Kunstsammler und Ausstellungsmacher von seiner Begegnung mit einem Potsdamer Fotografen berichtet. Den hatte er gefragt, warum ein Porträtfoto von ihm so teuer sei. Nur ein einziger Mensch fotografiert, das zwar äußerst präzise und treffend, aber warum so viel Geld? „Weil ein ganzes Leben darin steckt“, hat der Fotograf geantwortet. Und gemeinsam lacht man. Weil man sich in dem Fragenden oft genug selbst erkennt. Weil einem mal wieder das Bewusstsein für das Entscheidende fehlte. Und weil in dieser Antwort die ganze Wahrheit steckt, so klar und deutlich und unwiderlegbar, dass man darüber nur befreit lachen kann.
Denn in jeder Kunst steckt ein ganzes Leben. Bis zu dem Moment, in dem sie erlebbar wird. Ob ein Schauspieler oder ein Musiker auf die Bühne tritt, es ist nicht allein dieses eine Stück oder diese eine Komposition, die dann zu erleben ist. Die Erfahrung eines ganzen Lebens spiegelt sich hier wider. Und so ist es auch in jedem Bild, jeder Skulptur und jedem geschriebenen Wort. Ob Tanztage oder Unidram, ob die Vielzahl der Lesungen des Brandenburgischen Literaturbüros, von Carsten Wist und dem Viktoriagarten, ob all die kleinen und großen Konzerte im Kammermusiksaal Havelschlösschen oder im Nikolaisaal, in der Friedenskirche oder im Waschhaus – es ist immer etwas Besonderes, das wir hier in Potsdam erleben dürfen. Und es ist nicht nur der Künstler, der unsere Wertschätzung verdient, sondern all die, die hinter den Bühnen die Ideen haben und diese umsetzen. Die das alles erst möglich machen.
Das ist im Grunde die wichtigste und gleichzeitig auch schönste Erkenntnis in diesem so reichen und vielfältigen Potsdamer Kulturjahr: dieses Bewusstsein für die Wertschätzung. Es lässt einen weiterhin kritisch auf das blicken, was einem gezeigt wird. Doch man verliert sich nicht so schnell in dieses verkniffene, kleingeistige An-allem-und-jeden-Rumgekrittel. Wer meckern will, der findet immer was. Denn wo Menschen agieren, ob im Alltag oder in der Kunst, werden Fehler gemacht. Wer aber sein Bewusstsein für die Wertschätzung schärft, sieht mehr als nur das kritikwürdige Detail. Er erhält sich den Blick für das große Ganze. Er wird beglückt und weiß dies äußerst dankbar zu schätzen. Denn auch das geht mit der Wertschätzung einher: Dankbarkeit für die, die das alles möglich gemacht haben. In diesem Sinne blickt man dankbar zurück auf das Kulturjahr 2013, das ein besonderes war. Und man blickt mit freudiger Erregung auf das kommende Jahr. Es wird mit Sicherheit viel bieten, das Wertschätzung verdient und Glück schenkt.
Dirk Becker
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