
© Manfred Thomas
Kultur: Von der Lust, über sich hinauszuwachsen
Vor 70 Jahren wurde das Collegium musicum gegründet. Zum Geburtstag findet ein Festkonzert in der Friedrichskirche statt
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Enorme spieltechnische und gestalterische Anforderungen hält sie für alle bereit, die Dmitri Schostakowitschs Sinfonie Nr. 12 d-Moll op. 112 aufführen wollen. Da sind selbst Profiorchester stark gefordert, erst recht ein Laienorchester, das sich die musikalisch-revolutionäre Hymne auf „Das Jahr 1917“ – so der Untertitel der Sinfonie – als klingendes Prunkstück für sein Festkonzert zum 70. Jahrestag seiner Gründung auserwählt hat.
Das Sinfonieorchester Collegium musicum Potsdam geht unter Leitung seines Dirigenten und künstlerischen Leiters Knut Andreas sehr bewusst dieses die Musiker stark fordernde Wagnis ein. Wichtig ist es, so Knut Andreas, „die Musiker an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit heranzuführen, immer wieder Neuland zu betreten und zu erobern“. Die Musiker haben an solcher Herausforderung, man mag es kaum glauben, sogar Spaß. Und ohne den geht es genauso wenig wie ohne erforderliche Neugier. Mit der werden sie sich außerdem das „Andante festivo“ von Jean Sibelius erschließen und die Solistin Elena Soltan beim Violinkonzerte von Samuel Barber begleiten. Fraglos ein anspruchsvolles Programm, das sich das Collegium musicum als Potsdams ältestes Orchester heute Abend in der Babelsberger Friedrichskirche am Weberplatz zumutet.
Dabei sehen sie sich in der guten bürgerlichen Tradition eines Liebhaberorchesters, in welchem unterschiedlichste Leute unterschiedlichsten Alters und unterschiedlichster Herkunft sich aus Freude am gemeinsamen Musizieren zusammengefunden haben.
Ganz in diesem Sinne gründete der in Potsdam geborene, dort lebende und wirkende Komponist, Dirigent und Hochschullehrer Hans Chemin-Petit kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im August 1945 das Collegium musicum. Es bestand aus Berufsmusikern, die er mit Musiklehrern und guten Laienkräften zu einem Streicherensemble vereinigte. Mit den Auftritten wollte er das kulturelle Leben in der kriegsgeschundenen Stadt wieder ankurbeln. Bereits ein Jahr später übernahm Kurt Wolf, Lehrer am Helmholtz-Gymnasium, die Leitung, die er bis 1955 innehatte. Danach hieß es in einer Annonce des Rates der Stadt: „Wir gründen ein neues Collegium musicum! Interessenten: Laienmusiker, Hausfrauen, Studenten – jeder, der ein Musikinstrument beherrscht, ist willkommen!“ Die Leitung oblag Otto Wendt, Geiger im Estradenorchester des Berliner Rundfunks. Er erweiterte das Orchester um einen Bläsersatz. Da im Siebenjahresplan-Gesetz vorgesehen war, „die künstlerische Selbstbetätigung der Werktätigen in der Richtung zu fördern, dass eine große Zahl von Menschen zu schöpferisch-künstlerischer Tätigkeit geführt wird“, mussten alle kulturellen und künstlerischen Einrichtungen zur Erfüllung dieser Aufgabe beitragen. Und die Musiker folgten, indem sie mit voller Bläserbesetzung volkstümliche sinfonische Werke aufführten. Zudem, so Wendt, habe jedes Mitglied „weit über hundert Aufbaustunden und gesellschaftliche Einsätze aufzuweisen“. Der Lohn: Umbenennung in „Sinfonieorchester der Werktätigen“, wobei der Name Collegium musicum beim Streicherensemble des Orchesters verblieb. Träger des Orchesters während dieser Zeit waren der Rat der Stadt, der Bezirksvorstand des FDGB und die DEFA. In die bis 1968 überaus erfolgreiche Wendt-Ägide fällt auch die gelobte Aufführung des Singspiels „Der Dorfjahrmarkt“ von Georg Benda im Rahmen der Arbeiteroper.
Danach brachen unruhige, ja existenzbedrohende Zeiten an. Pianist Werner Scholl kam (1968) und ging (1974). In dieser Zeitspanne sorgte der Grafiker und Collegiums-Bratschist Victor Herbert für das Weiterbestehen des Orchesters, indem er die Trägerschaft durch die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft erreichte. Logisch, dass man nun auch Konzerte in sowjetischen Garnisonen und Hospitälern gibt. Bis 1986 überbrückten dann verschiedene Potsdamer Musiker, unter ihnen Ronald Reuter, Kapellmeister des Theaters, die Leitung. Als staatliches Trostpflaster gab es die Auszeichnung „Hervorragendes Volkskunstkollektiv der DDR“.
Dann übernahm Klaus Lenk, Konzertmeister im Collegium musicum und Geiger im Theaterorchester, die Leitung. In dieser Zeit holte die promovierte Biomedizintechnikerin Barbara Scholz ihre Geige wieder hervor, in deren Spielgeheimnisse sie in ihrer Oberschulzeit an der Potsdamer Musikschule eingeweiht worden war. Und verstärkte die Gruppe der Ersten Geigen. Als ihr das Orchester „ein bisschen zu schlecht“ wurde, verließ sie es in der Wendezeit – um zwei Jahrzehnte später in die ihr mittlerweile nun doch fehlende Spielgemeinschaft wieder einzutreten. Die ist inzwischen ein gemeinnütziger Verein geworden und hat seit 1998 einen jungen, dynamischen und ideenreichen künstlerischen Leiter: Knut Andreas. Mit 15 Musikern im Altersschnitt weit über 60 fing er an. Heute sind es 80 Musiker zwischen 19 und 80 Jahren. Und wie steht es um die Auswahl der Werke? „Ich achte auf einen Wechsel zwischen leichten und schweren Stücken, um die musizierenden Rechtsanwälte, Ärzte, Landschaftsarchitekten, Betriebswirtschaftler, Musikschullehrer und Geoforschungsmitarbeiter weder zu unter- noch zu überfordern.“ Bei der Auswahl fragt er sich stets: Was ist lange nicht in Potsdam erklungen? Was ist technisch spielbar und was nicht? So erweitert er zielstrebig das Repertoire vom Barock über Operette bis zu Crossover und Uraufführungen. Und sorgt für neue Offerten wie die volksfestartige „Klassik am Weberplatz“. Publikum wie Musikern gefällt das alles sehr. Längst studiert man im Bethlehem-Saal der Babelsberger Kirchgemeinde jährlich sechs bis sieben Programme ein, die man dann auch in der Friedrichskirche der Öffentlichkeit präsentiert. Wie heute Abend.
Peter Buske
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