Kultur: Von Lebensfreude und Sinnkrisen Mahlers 9. Sinfonie im Nikolaisaal
Was sich Gustav Mahler in seiner „Neunten“ von der Seele schrieb, gehört zu den erschütterndsten Zeugnissen, die je ein Tonsetzer in Noten verwandelte. Subjektive Sinn- und Lebenskrisen hatten vor ihm viele Komponisten entsprechend vertont.
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Was sich Gustav Mahler in seiner „Neunten“ von der Seele schrieb, gehört zu den erschütterndsten Zeugnissen, die je ein Tonsetzer in Noten verwandelte. Subjektive Sinn- und Lebenskrisen hatten vor ihm viele Komponisten entsprechend vertont. Mahler dagegen gewinnt den Auseinandersetzungen um innere Zerrissenheit und Resignation, Aufbäumen und Verlorensein, Lebenswillen und Todeserahnungen einen objektiven Ausdrucksreichtum hinzu, dessen herzergreifender Tonfall bis dato unerhört war. Ein Resümee des bisher Geschaffenem und Erlebtem, das zudem den gesellschaftlichen Zustand seiner Entstehungszeit zwischen 1908 und 1910 widerspiegelt, wird von zwei langsamen, sehr ausgedehnten Ecksätzen gerahmt. Zwei schnelle, von groteskem Galgenhumor, bizarren Gestalten und hämischen Betrachtungen erfüllte Binnensätze beschreiben jenen durchlittenen „brutalen Lebensstrudel“, an dem der Komponist schließlich zerbrach.
Um all diese Dinge schienen Howard Griffiths und die Musiker des Brandenburgischen Staatsorchesters Frankfurt bei ihrer beklemmenden Wiedergabe am Samstag im Nikolaisaal zu wissen – und so prägten sie dem 8. Sinfoniekonzert den Stempel des Ungewöhnlichen auf. Wie sie im Kopfsatz die entrückte Abschiedsstimmung aus Mahlers Zyklus „Das Lied von der Erde“ trafen und das sich aus melodischen Fragmenten zusammenfügende Hauptthema im spannenden Nachvollzug entstehen ließen, das ließ auf eine tiefgründige Beschäftigung mit dieser 9. Sinfonie in D-Dur schließen.
Breit und aus großer Ruhe liess Griffiths einen Konflikttsunami entstehen, dessen Fortefortissimo-Dynamik den Saal an seine akustischen Grenzen und die Ohren an die EU-genormte Schmerzschwelle brachte. Seelenzerreißendes, Groteskes und trotzig Aufbegehrendes prallten auf Wehmut und Verklärung. Glänzende Hörner, brillante Streicher, elegische Flöten und grelle Klarinetten waren die Mittel zum Zweck. Selbst im verklärend-verlöschenden Adagio-Finale mieden die Musiker ein zelebriertes Dauervibrato und lieferten stattdessen eine klar konturierte Klangzeichnung. Nach 83 Minuten löste sich die Anspannung des Publikums in anhaltenden Beifall.
Den durften schon zu Beginn des Abends die Geigerin Lena Neudauer und der Bratschist Niels Mönkemeyer genießen, nachdem sie mit hinreißender Spielfreude, atemberaubender Technik und enorm gefühlsreich die Soloparts in Wolfgang Amadeus Mozarts Sinfonia concertante Es-Dur KV 364 absolviert hatten. Beide schienen innerlich ganz von der Musik erfüllt, während des Spiels hielten sie intensiven Blickkontakt – Ausdruck ihrer gedanklichen und ästhetischen Übereinstimmung. Keiner suchte den anderen zu übertrumpfen, stattdessen erzählten sie in vergnüglichem Miteinander mit den Orchestermitgliedern eine kleine Oper über pure Lebensfreude und totales Liebessehnen. Den sonor werbenden Klängen der Viola antwortete die nicht weniger glanzvoll tönende Violine voller Innigkeit. Was bald zum erotischen Versteckspiel und schmachtenden Zwiegespräch führte, das schließlich in einer temperamentvoll gefeierten „Verlobung“ endete. Eine Liaison mit feurigen und innigen Klängen. Dem Beifall dankten die beiden Solisten mit dem virtuosen Rondeau aus Mozarts G-Dur-Duo KV 423.Peter Buske
Peter Buske
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