Kultur: Von wegen kühl
Michael Rische und das Leipziger Kammerorchester
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Wenn im 18. Jahrhundert vom „großen Bach“ gesprochen wurde, war nicht Johann Sebastian gemeint, sondern sein Sohn Carl Philipp Emanuel. Er war einer der Hauptvertreter des Empfindsamen Stils und stand 28 Jahre lang als Cembalist und Kammermusiker im Dienst Friedrichs des Großen, ehe er für zwei Jahrzehnte als städtischer Musikdirektor in Hamburg wirkte. Am 8. März jährte sich der Geburtstag von Carl Philipp Emanuel Bach zum 300. Mal. Im Jubiläumsjahr stellen die PNN regelmäßig Neuerscheinungen mit Werken des „großen Bachs“ vor.
Erst kürzlich kam in einem Gespräch unter Musikkritikern auch die Rede auf Carl Philipp Emanuel Bach. Eine Kollegin rümpfte da nur die Nase und meinte, dass dieser doch so künstlich und kühl sei. Das hat dann doch überrascht, eine solche pauschale und längst überholte Einschätzung ausgerechnet in diesem Jubiläumsjahr zu hören. Doch statt sich auf eine Diskussion einzulassen, dachte man sofort an den Pianisten Michael Rische und seine beiden Aufnahmen mit Klavierkonzerten (Hänssler Classic), die er zusammen mit dem Leipziger Kammerorchester unter Leitung von Morten Schuldt-Jensen eingespielt hat. Allein das Allegro des Concerto in d-Moll (Wq.23) vom ersten Album lässt einen nur den Kopf schütteln, dass bei diesem Komponisten überhaupt an Künstlichkeit und Kühle gedacht werden kann. Von Empfindsamkeit ist bei Carl Philipp Emanuel Bach die Rede und in Rische und dem Leipziger Kammerorchester findet diese Empfindsamkeit kongeniale Interpreten, die seine Werke spielen, als würden sie einfach nur in eine große Wundertüte greifen.
Der gesangliche Auftakt des Allegros, den die Streicher hier spannungsvoll aufladen und in den wie erlösend das Klavier galoppiert, all schon das gestalten Rische und die Leipziger mit einem Licht und einer Strahlkraft, die etwas Mitreißendes und gleichzeitig tief Berührendes haben. Und das hört nicht auf. Hier wird Bachs Empfindsamkeit nicht zur verzärtelten Geste, sondern zum raumgreifenden Rundumschlag. Lust am Leben, Lust am Spiel und Lust an Carl Philipp Emanuel Bach – so lässt sich die Herangehensweise interpretieren. Und der Zuhörer erlebt ein Wechselbad der Gefühle und Überraschungen. Der Überraschungen vor allem ob der erstaunlichen Präsenz des Orchesters und des Pianisten, der unerhörten Feinabstimmung und bewussten Tiefenwirkung der Bach’schen Kompositionen, die hier bei jedem neuen Hören offenbar wird. Zwei d-Moll-Konzerte (Wq.23 und 17), das Concerto in E-Dur (Wq.14) und das Concerto in c-Moll (Wq.31) hat Rische mit den Leipzigern auf beiden Alben eingespielt. Dazwischen jeweils zwei Konzerte für Piano solo. Und es ist tatsächlich so, dass man sich an diesen Aufnahmen nicht satthören möchte, weil sie jedes Mal aufs Neue zur Entdeckungsreise werden. Hier ist eine Frische und Lebendigkeit, eine Klangkultur und lustvolle Hingabe ans Virtuosentum zu erleben, die sowohl die Seele wärmen, als auch den Geist fordern. Eine Verbindung, die in dieser überzeugenden Ausprägung nur selten zu finden ist. Vor allem aber öffnen Michael Rische und das Leipziger Kammerorchester so ganz leicht auf spielerischste Weise den immer wieder erwähnten Kosmos, der in den Werken von Carl Philipp Emanuel Bach zu finden ist. Und wieder einmal fragt man sich, warum dieser Meister immer noch so selten im Konzert zu erleben ist. Aber ganz ohne die sonstige Wehmut. Denn es gibt ja jetzt diese beiden, so wertvollen Aufnahmen! Dirk Becker
Dirk Becker
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