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Kultur: Von Wolken und Menschen

Jaroslav Rudi liest heute im Literaturladen Wist aus „Grandhotel“

Stand:

Vielleicht ist es, weil sie immer weiterziehen, immer in Bewegung sind, dass Fleischman sich so für die Wolken interessiert. Im Gegensatz zu ihm nämlich sind sie mobil und flüchtig. Er selbst ist noch nie aus der nordtschechischen Stadt herausgekommen. Beim ersten Versuch, als sein Vater mit einem nagelneuen Auto nach Hause kam und Ehefrau und Sohn reinpackte, um die Gegend zu erkunden, gelangten sie nur bis zum Ortsschild. Da hatten sie einen Unfall, und seither hat Fleischman keine Eltern mehr. Ein entfernter Cousin nahm ihn auf, doch Fleischman hatte schon vorher kein schönes Leben: Immer wurde er in der Schule gehänselt und von seinen Mitschülern an Bäume gefesselt und geschlagen. Nun lebt er mit seinem Cousin Jégr im Grandhotel, das auf dem Berg über der Stadt thront und ihn ganz nah an die Wolken bringt. Versteht sich von selbst, dass der mittlerweile 30-jährige noch nie eine Frau hatte und deshalb von Jégr abschätzig „Einhandflötist“ genannt wird.

Jaroslav Rudi, der Erfinder dieses Ritters der tschechischen Gestalt, der heute im Literaturladen Wist zu Gast ist, wurde 1972 geboren und hatte mit „Grandhotel“ in Tschechien einen großen Erfolg, der sogleich verfilmt wurde. Es ist kein positiver Held, der sich da die Wolken ansieht und durch die Schlüssellöcher im Grandhotel seine Kollegen bespitzelt – und dabei auch manch unbequeme Wahrheit über sich selbst erfährt. Zum Beispiel, dass er der perfekte „Kinderkill“ sei, weil bei seinem Anblick die gesamte weibliche Lust, zumindest die der Kellnerinnen, die er belauscht, vergeht. Fleischman versteht und tauscht seine wollene Anzughose gegen eine Jeans aus, zieht ein T-Shirt drüber (alles einfach geklaut) und wird ab dem Zeitpunkt sogar für die Frauen attraktiv. Wir hier in Deutschland kennen wenig tschechische Literatur, wenn man Milan Kundera, der schon seit Jahrzehnten in Paris lebt, noch dazu zählen möchte – mit Hrabal hatte man wohl mal Kontakt – und als Vaclav Havel Präsident wurde, sprach man mehr über seine Ehen als über seine Theaterstücke. Nun aber kommt dank des Kulturforums östliches Europa ein Autor, der uns neu die Eigenart der Tschechen, dieses merkwürdige Understatement, nahe bringt. Es ist sicherlich ein Vergnügen, Rudi mit der schwarzen Brille und dem übergroßen Pony, der ihm immer in die Stirn rutscht, beim Vorlesen zuzuschauen. Allerdings braucht man nicht Kunderas melancholisches Tschechien, das vernebelt philosophisch aus alten Badlandschaften wie Karolvy Vary strömte, zu erwarten.

Der Held von Rudi besitzt eher einen schweijkschen Schalk, jedoch wenig von dessen Siegesgewissheit. Das Grandhotel hoch oben bei den Wolken ist Sammelbecken seltsamer Gestalten. Verlorene, die ihrem Traum nachhängen. Und bestünde der nur aus der Wetteransagerin im Fernsehen, die große Leidenschaft des tragikomischen Helden. Das ist die einzige große Welt, die in die kleine Gemeinschaft dringt. Doch in dem merkwürdigen, die Stadt überragenden Bau, befinden wir uns in der „Mitte Europas“: Hier aber ist die Zeit merkwürdig stehen geblieben. Nur die „Trainingshosen“ bringen Modernität. Das sind Russen, die das Hotel auf den Kopf stellen und irgendwann kläglich erschossen in ihrer Limousine aufgefunden werden. Es ist eine Mitte Europas, in der deutsche und tschechische Geschichte durch die Protagonisten zusammen fallen – und sei es nur dadurch, dass der merkwürdigste aller Gäste, Franz, ein Deutscher, der aus der tschechischen Stadt stammt, sich „auf Lebenszeit“ einmietet. Er bringt die Asche eines Kriegskameraden in einer bayerischen Kaffeedose. Darauf prangen zur großen erotischen Freude von Fleischman, dem Helden der Wolken, die Brüste einer Dirndl-Frau: mindestens BH-Größe D. Hier wird Europas Mitte auf menschliche Grüße zurückgeführt. Lore Bardens

Lesung heute um 20 Uhr im Literaturladen Wist.

Lore BardensD

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