Kultur: Vorverurteilt
„Leutnant Gustl“ gelesen im Theaterfoyer
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Was Hans-Jochen Röhrig seit vielen Jah- ren für die Potsdamer Kleinkunst auf die Beine stellt, das läuft und läuft. Anfang März gab es in der neuen Lesereihe „darauf möcht keiner kommen“ von Heinrich Böll „Dr. Murkes gesammeltes Schweigen“ mit sehr gutem Besuch des Hans Otto Theaters. Die Matinee letzten Sonntag war hingegen sehr dürftig besucht. Sicher lag es am prachtvollen Frühlingswetter, dass so wenige den Weg ins „Untere Foyer“ fanden, um sich Arthur Schnitzlers kluge Novelle vom „Leutnant Gustl“ zu Gemüte zu führen, ein Extra-Raum für Spezialitäten der „Kleinen For“ steht dem Neubau ja nicht zur Verfügung. Aber es ging auch so, zumal sich die Schauspieler Christian Klischat und Joachim Schönitz sehr bemühten, dem inneren Monolog eines jungen k. u. k.-Leutnants Form und Farbe zu geben.
Dieser ist wohl ein Luftikus mit Drang zu den Damen, ein Tarot-Freund mit Spiel-Schulden, ein Heißsporn, wenn es darum geht, die „Ehre“ durch Satisfaktion zu verteidigen. So geschah es, nachdem er sich in einem Konzert von Mendelssohn-Bartholdy gründlich gelangweilt hatte, noch vor der Wende zum 20. Jahrhundert, dass er an der Garderobe mit einem bärenstarken Bäckermeister aneinandergeriet, weil der Leutnant Gustl dachte, er hätte „Vorfahrt“. Mit eisernem Griff an seinem Säbel nannte ihn Habetswallner „dummer Bub“ – eine tödliche Beleidigung „fürs Militär“. Aber Gustl war wie gelähmt, unfähig, ihm, sagen wir, zu widersprechen. Die Zerknirschung über sein mögliches Versagen füllt nun diese Novelle aus, deren Sentenz „Drauf möcht keiner kommen“ jener Lesereihe zu ihrem Titel verhalf.
Der Leutnant, am nächsten Tag zu einem Duell verabredet, irrt nun durch das nächtliche Wien, um seine Optionen zu bedenken: Dem vorgesetzten Meldung machen, den Bäcker vor die Klinge zu fordern, klein beizugeben, was unmöglich scheint, denn Habetswallner könnte den Vorfall jederzeit ans Licht bringen – eine virulente Bedrohung. So bleibt dem Ärmsten wohl nur eine Möglichkeit: Selbstmord. Mit derart dunklen Gedanken beschäftigt sich der zweite Teil dieser hübschen Novelle, wobei Joachim Schönitz das kaum raumgreifende Monologisieren Christian Klischats durch seine Präsenz als Bäcker und Kellner szenisch etwas auflockerte. Rezeptiv hatte man sich mit einem doppelten Phänomen auseinanderzusetzen: Wie „Leutnant Gustl“ seinem Autor eine Beleidigungsklage („Nestbeschmutzer“ sind nirgendwo gern gesehen) der Armee mit nachfolgender Degradierung zum einfachen Militärarzt einbrachte – so machte Hans-Jochen Röhrig bei seiner Einführung den „Sack zu“, bevor die szenische Lesung begann. Er beschrieb den Protagonisten als „antijüdisch, antisozialistisch“, eine beschränkte, jämmerliche Kreatur der österreichischen Monarchie, was Klischat durch hämisches Lachen und andere Fiesheiten dann auch mit Gründlichkeit zeigte. Schnitzler schuf aber eine viel differenziertere Figur mit seelischen Tiefen, einen Kerl voller Unsicherheiten und Schwächen, den man eher mitleidsvoll sieht denn als Monster. Der gute Mann ist einfach ein wenig unreif. Er schreibt in Gedanken Abschiedsbriefe an die geachteten Eltern, auch an seine Geliebte Steffi, die eine rote Laterne in ihrem Badezimmer hat. Der Autor löst das Problem diplomatisch, indem er den Bäcker in jener Nacht einen Schlag erleiden lässt. Exitus, und alles geht seinen gewohnten Gang, als wäre nichts geschehen. So elegant kann das gehen, wenn man eine Person nicht vorweg denunziert. Gerold Paul
Gerold Paul
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