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Kultur: Vorwärts immer

44 Leningrad mit neuer CD „Don Kilianov“ in der fabrik

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Die Genossen von 44 Leningrad greifen wieder zu den Waffen, besser gesagt zu den Instrumenten. Pünktlich zur Veröffentlichung ihrer neuen und siebenten CD „Don Kilianov“ statten die Kommunisten-Rocker ihrer Heimatstadt Potsdam einen Besuch ab. Dichtes Gedränge vor der fabrik in der Schiffbauergasse. Die Live-Qualitäten des Sextetts haben sich herumgesprochen. Durch ihre Aufnahme auf den letzten „Russendisko“-Sampler von Wladimir Kaminer erfuhr die Band einen weiteren Popularitätsschub. Viele nutzen die lange Wartezeit, um ihre flüssige Versorgungslage an der Bar zu sichern. Wodka Ahoj – für die Puristen: das ist Wodka mit Brausepulver – wärmt vor, die Vorband wird gut gelaunt, aber in ungeduldiger Erwartung auf den Hauptact begrüßt.

Wer mit dem Vorsatz ins neue Jahr gestartet ist, diesmal – aber wirklich – mehr Sport zu treiben, ist hier absolut richtig. Der treibende Post-Sowjet-Punk der 1990 in Potsdam gegründeten Band ist hart an der Grenze zum Extremsport. Ihre durch Trompete, Balalaika und Akkordeon erweiterte Rock-Besetzung macht Musik, deren Mittanz-Faktor nur die stoischsten Gemüter widerstehen können – diese sind in der fabrik aber in der Minderheit.

Zeit für Stretching und Aufwärmen bleibt nicht, denn ohne Vorwarnung brettern die Jungs und ihre weibliche Mitstreiterin Ulli am Akkordeon los. Die Marschrichtung, oder besser: Tanzrichtung, ist klar: vorwärts immer, rückwärts nimmer! Selbst die ruhigeren Lieder sind zum Schmusen eher ungeeignet. Ihr Repertoire besteht zum größten Teil aus sowjetischen Kampf- und Arbeiterlieder. Schließlich heißt von der Sowjetunion lernen, siegen lernen, wie es die Partei einmal formulierte. Mit ihrer fehlenden Werktreue und ihren pop-musikalischen Einstreuungen hätte 44 Leningrad den Genossen Walter Ulbricht aber wahrscheinlich zur Weißglut gebracht. Schließlich hatte der sich ja mal abwertend über den musikalischen „Dreck, der vom Westen kommt“ geäußert. Doch mit der „Monotonie des Je-Je-Je“, wie es Ulbricht staksig formulierte, hat 44 Leningrad eh nichts am Hut.

In die Kampflieder mischt sich „Das Model“ von den Elektro-Pionieren Kraftwerk oder die Trompete setzt zu einer schmetternden Linie aus dem Liedgut der Punk-Helden The Ramones an: „Gina is a Punkrocker“ singt der Schweiß triefende „Mob“ mit. Vortänzer ist ein Mann in der ersten Reihe, der in voller Offiziers-Kluft tanzt und besonders bei den russischen Texten aus voller Kehle mitsingt. Der Saal hat sich inzwischen in eine Waschküche mit der Luftfeuchtigkeit eines Regenwaldes verwandelt. Christoph Henkel

Christoph Henkel

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