Kultur: Wahnsinnig „neu“
Michael Schindhelm bei „Klassik plus Gespräch“ im Nikolaisaal
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Einige Protagonisten der Potsdamer Kulturszene kenne er zwar, dennoch fühle er sich inkompetent, Potsdams musikkulturelle Situation und Probleme zu bewerten, bekennt Michael Schindhelm, Generaldirektor der Stiftung „Oper in Berlin“ und Autor, gleich zu Beginn der Diskussionsrunde über das „Musiktheater in Potsdam aus Berliner Sicht“. Das überschaubare Auditorium im Foyer des Nikolaisaals vernimmt es bei dieser zweiten Folge der Reihe „Klassik plus Gespräch“ mit Staunen. Um den Offenbarungseid ein wenig abzumildern, ist dem Koordinator von drei Berliner Opernhäusern der Szenekenner Albert Thiemann zur Seite gestellt. Doch auch er ist, als einstiger „MAZ“-Musikredakteur, kein Außenbetrachter, auch wenn er nun als Redakteur der „Opernwelt“ in Berlin tätig ist.
Was zur Folge hat, das unter dem zerstreut wirkenden Fragesteller Dieter Rexroth (Dramaturg der RundfunkOrchester und Chöre GmbH) erstens allgemein über die Situation des Musiktheaters in Deutschland geredet wird und zweitens bekannte Fakten über die Potsdamer Musiktheatersituation aus Vergangenheit und Gegenwart mehr oder wenig faktenkundig ausgebreitet werden. Ursachenforschung findet kaum statt. Man beschreibt Situationen, erhebt unrealistische Forderungen („Virtuose Kulturpolitiker sind gefragt, um der Finanzpolitik nötiges Geld aus der Tasche zu ziehen“). Was, wenn keines da ist?! Gedankenprovozierendes bleibt aus. Es fängt bei der Nachkriegs-, Vor- und Nachwendezeit an. Hat das Stadttheater alter Prägung noch eine Zukunft, ist das Absterben regionaler Institutionen unausweichlich, wie ist es „um die Relevanz von Musiktheater im Lande“ bestellt Gemeinsam beklagt man Werteverfall, beschreibt den „enorm großen Verlust, wenn wir uns auf Ökonomie zurückdimmen lassen“ (Schindhelm), moniert zurückgehende Besucherzahlen, lamentiert übers Älterwerden des Publikums, die Herrschaft des Mammons über die Musen – alles waaahnsinnig neu und typisch Potsdam. Dass dessen Musiktheatersparte sich durch Spezialisierung auf Barockes eine Existenznische geschaffen hat – bekannt. Dass in Zeiten gewaltiger sozialer Verwerfungen Theater ein Identifikationsort ist – wer wüsste es nicht. Dass die Kammerakademie Potsdam dem hiesigen Musikleben neue Impulse verliehen hat – wer wollte es bestreiten. Tiefschürfend die Erkenntnis: „Wenn das Publikum nicht mehr zu den Musen kommt, müssen diese zu ihm gehen.“
Die Betrachtungen über die „unvergleichliche Konstellation“ von Kulturmetropole Berlin und im Speckgürtel gelegener Landeshauptstadt gipfeln in Empfehlungen zur Kooperation von Schlosstheater und Apollosaal/Staatsoper. Als ob es die und zu anderen vergleichbaren Theaterchen nicht schon längst gäbe! Fazit der Gesprächsrunde: Das Kernrepertoire von großer Oper möge man in Berlin genießen, Spezielles in Potsdam. Dann liest Michael Schindhelm aus seinem Roman „Die Herausforderung“ ein Kapitel übers Mobbing einer Westfotografin auf Ost-Autobahn. Toll. Ach ja, Musik ist auch erklungen. Als Garnierung. Mitglieder der Kammerakademie spielen auf barocken Instrumenten und im Bemühen um historische Aufführungspraxis drei herb getönte, von Seufzermelodik und Liebesleidenschaft erfüllte Madrigale von Gesualdo da Venosa. Dem Renaissance-Alternativen gesellt sich der schweizerische Neutöner Klaus Huber (geb. 1924) mit intervallreichen und introvertierten Piecen für Violoncello (Anna Carewe) und Flöte (Bettina Lange) zur Seite. Peter Buske
Peter Buske
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