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Kultur: Was für eine Diva!

M. Lamar im „nachtboulevard“

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Und wieder zeigten die Veranstalter des „nachtboulevard“, dass die Reithalle als Austragungsort exklusiver Überraschungen eindeutig die erste Wahl Potsdams ist. Wie so oft zwar leider wieder mehr schlecht als recht besucht, konnte man sich am Freitagabend von etwas hinreißen lassen, was irgendwo zwischen grenzwertig, anspruchsvoll und des Kaisers neue Kleider anzusiedeln wäre.

Der New Yorker Performance-Künstler M. Lamar konnte aber auch auf den ersten Blick recht abschreckend wirken: ein als Operndiva aufgebrezelter Afroamerikaner, der sich selbst mit unglaublich realen femininen Bewegungen am Flügel begleitete. Das kann der doch niemals ernst meinen, waren die ersten Gedanken, dennoch ließ man sich von der an Surrealität kaum noch zu überbietenden Show erstaunlich schnell fesseln. Sicher, Frauen mit Männerstimmen sieht man zumindest in der Welt der Popmusik den Erfolg eher nach als Männern mit Frauenstimmen, wobei Interpreten wie Jimmy Sommerville auch mit Falsettstimmen große Erfolge feiern konnten. Und was ist eigentlich mit den Heavy-Metal-Frontmännern der 80er Jahre? Ausgerechnet in einem derart testosterongeladenen Musikstil grenzt es doch an ein Wunder, dass die Kopfstimmen nicht absolut deplatziert wirken.

Countertenöre sind dennoch keine Erfindung der Neuzeit, sondern wurden bereits in der Alten Musik eingesetzt. Und musikalisch fühlte sich M. Lamar, der zum ersten Mal in Europa zu erleben ist, auch eher der klassischen Musik zugehörig, wenngleich sein Auftreten sowie seine Texte durchaus Popstar-Potenzial haben. Aber wahrscheinlich ist es generell kaum möglich, bei so viel Androgynität eine geeignete Schublade zu finden. M. Lamar als bloße Verballhornung einer Operndiva zu interpretieren, greift eindeutig zu kurz: musikalisch war hier ein Perfektionist am Werke.

Die Bühnenshow des Countertenors lebte von dessen Selbstironie, der Künstler war dermaßen overdressed, dass man Angst hatte, er würde bei der herrschenden Wärme von der Bühne kippen. Latexhose, Mantel, Lederhandschuhe und schweres Make-up schleppte er sicher zentnerschwer mit sich herum, und auch die auf der Leinwand hinter ihm eingeblendeten Texte schienen auf ihn selbst zu rekurrieren. Im ersten Stück, einem ziemlich langen Requiem, ließ er immer wieder Sätze fallen, die durchaus auch auf ihn selbst bezgogen werden konnten: „I wish I had no skin“, sang er in beschwörend-sakraler Rhetorik, oder: „I’m trying to leave my body, but this man won’t let me go“. Das aus dem Munde eines schwarzen Transgenders, sollte man da an Zufall glauben?

Und überhaupt war alles nicht nur unglaublich ergreifend, sondern extrem grenz- und todesnah. M. Lamar litt förmlich, bewegte sich grazil vor und zurück und ließ seine Kopfstimme von recht minimalistischen Akkorden begleiten. Dabei wirkte er dermaßen konzentriert und extrovertiert, dass man ihm einfach Ernsthaftigkeit attestieren musste. Das war nicht witzig, und gelacht hat auch keiner – obwohl derart viel Parodie in dem ganzen Auftritt steckte. Da verschwand schon mal das Bild eines Mannes, der die Diva doch eindeutig war. Als er heftig mit den Stiefeln im Takt trampelte, wirkte seine Schuhgröße 46 geradezu clownesk.

Nach gerade drei Stücken, die jedoch eine Bandbreite von Klassik bis zu Soul abdeckten, verließ M. Lamar dann genau so divenhaft die Bühne, wie er gekommen war, um sich unter das Publikum zu mischen. Nein, Potsdam sei nicht die letzte Station des heutigen Abends. Es stehe diese Nacht noch ein Auftritt im Berliner KitKatClub an. Na klar, in diesem Ambiente freizügiger Erotik wird ein Transgender-Countertenor ganz sicher seinen passenden Platz finden. Oliver Dietrich

Oliver Dietrich

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