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Kultur: Was nicht passt
Die Schriftstellerin Antje Rávic Strubel über ihr nicht ganz einfaches Verhältnis zu ihrer Heimatstadt Potsdam
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Ich bin in den Nockbergen. Es gibt ein Feuer im Kamin und Reste von Schnee, durchmischt vom Gesteinsgrau des Streugutes, das im Winter auf die steilen kurvenreichen Straßen geschüttet wird. Es gibt Gipfelkreuze und Skilifte, die stillstehen, weil Stürme den wenigen Schnee dieses Jahr von den Pisten hinunter in den Wald geblasen haben. Ich bin auf 1800 Meter Höhe und werde kurzatmig, sobald ich mich wie gewohnt bewege. Alles geht hier etwas langsamer. Die Touristen, denen ich begegne, sprechen ungarisch, slowenisch, manche mit Kärntner Dialekt. Die wenigen Deutschen kommen aus München oder Regensburg. „Passau“, sagte der Vermieter, als er das Nummernschild meines Autos sah. „Sie kommen also aus Passau.“ Ich war versucht, ja zu sagen. Der Einfachheit halber. Mit Passau kannte er sich aus. Passauer hatten wahrscheinlich schon in seiner Ferienhütte gewohnt. Passauer wussten, wie man den Pellet-Ofen im Keller bedient. „Nein“, sagte ich. „Potsdam. Und könnten Sie mir das mit den Pellets bitte erklären?“
„Aha“, sagte er. Er sah aus, als würde er versuchen, sich diese Stadt auf einer Landkarte vor Augen zu führen, und als ob es ihm nicht gelinge. „Dann unterschreiben Sie mal hier, dass Sie mit den Nebenkosten einverstanden sind.“ Ich war mit den Nebenkosten einverstanden.
Wenn ich auf dem Balkon sitze, fällt der Berg vor mir ab, auf der gegenüberliegenden Seite des Abgrunds ragt eine schroffe Felsspitze auf. Die Schneeflecken auf den Geröllmassen formen Muster, Gesichter, Traumgebilde.
In diesem Jahr wird es mir öfter so gehen: Wo immer ich sein werde - in Klagenfurt, in Upstate New York, in Visby, in Helsinki und vielleicht in L.A. - wird Potsdam ein fernes Traumgebilde sein. Die Stadt der Wassertaxis. Die Stadt, die wie ein goldener Krebs die Schalenarme ausgestreckt, von glitzernden Seen umspült wird. Die Stadt, die ihren König zelebriert, bis ihr schwindelt. Die Hauptstadt des einzigen Bundeslandes, das in der Mitte ein Loch hat: Berlin. Die Stadt, die ich mir zum Leben ausgesucht habe. Warum, denke ich in der Ferne, und ab wann identifiziert man sich mit einer Stadt?
Bevor ich nach Potsdam kam, habe ich mir darüber nie Gedanken gemacht. Ich zog dorthin, wo ich eine Wohnung fand, die mir gefiel. Wenn ich mir jetzt darüber Gedanken mache, stelle ich fest: Die Stadt, in der ich lebe, ist beschaulich. Sie ist auf dem besten Weg, eine gutbürgerliche Enklave der Besserverdienenden zu werden. Sie ist eher ein Eldorado der Hofkapellmeister-Kantaten als der independent music, lässt den historisch-politisch-konservativen Roman lieber zu Wort kommen als die sprachlichen Experimente der jungen Lyrikszene. Sie gibt sich royal und war einmal extrem rot. Kurz: Sie passt nicht zu mir.
Die Alm, auf der die Ferienhütte steht, heißt Heidi-Alm. Holzfiguren in Lebensgröße zieren den Zirbelwaldweg, auf dem Eltern mit ihren Kindern spazieren gehen. Heidi steht da in einem kurzen roten Kleid, das im Schnee bemitleidenswert aussieht. Sie reißt ihre Arme hoch, während der Großvater dem Peter ein neugeborenes hölzernes Zicklein zeigt. Heidi hört nicht auf, die Arme hochzureißen. Wenn ich an ihr vorbeikomme, springt sofort ein Lied in meinem Kopf an, das Lied jener Fernsehserie, die eine Zeit lang jeden Samstagnachmittag ausgestrahlt wurde. Im Westfernsehen. In den 80er Jahren. Ich erinnere mich an den Text, denn hier oben bist du zu Haus, ich erinnere mich auch daran, wie sehr ich mich damals nach so einer Alm sehnte, und wie sicher ich war, dass Peter zwar in Heidi, Heidi aber in Clara verliebt war. Clara, das blasse, kränkelnde Mädchen aus dem zivilisationsverseuchten Tal. Dunkle Tannen, grüne Wiesen im Sonnenschein, Heidi, Heidi, brauchst du zum Glücklichsein. Es war Kalter Krieg. Aber wenn Clara auf 1800 Metern Höhe ankam, war sie gerettet. So wie wir jeden Samstagnachmittag gerettet waren. Gerettet von der unheimlichen Ödnis der Wäscheplätze hinter dem Neubaublock. Auf der Alm gab es keine Atombomben. Auf der Alm gab es keine Öde, sondern den Geruch nach frischem Heu.
Der Kalte Krieg ist seit über 20 Jahren vorbei. Leser schreiben mir, dass ich mit diesem „DDR-Kokolores“ endlich mal aufhören solle. Sie fragen auf Lesungen, warum ich dauernd an dieser Ostvergangenheit festhalte. Sie haben recht. Ich kann einfach nicht loslassen. Sobald es um die Erinnerungen an meine Kindheit geht, erinnere ich mich an die falsche Seite des Kalten Krieges, an jene, die mit der vergehenden Zeit immer lästiger zu werden scheint. Diese Seite ist irgendwie nicht richtig deutsch. Sie gehört nicht dazu. Auch in Potsdam wird man ihre Spuren bald ausgemerzt haben. Daran waren die Russen, der Zweite Weltkrieg, Lenin oder Marx schuld, aber mit dem Eigentlichen hat es nichts zu tun. Bei einem Schreibworkshop, den ich für Jugendliche gab, erwähnte ich als Beispiele Christa Wolf und Brigitte Reimann. Bis jemand fragte: „Und was ist mit richtiger Literatur?“ Ich bin gespannt, wie sich der neue Bundespräsident in dieser Situation verhält.
Die hölzerne Heidi auf dem Zirbelwaldweg reißt ihre Arme hoch. Sie sieht aus, als wolle sie im nächsten Moment ihre Umgebung in einer Umarmung versinken lassen. Sie weiß nur nicht, wie. Heidi ist kein richtiges Mädchen. Sie war der erste Tomboy, den ich sah. Tomboys sind Mädchen, die in ausgebeulten Lederhosen auf Felsen herumklettern und lieber am Lagerfeuer unterm Sternenhimmel Knüppelkuchen machen als in der Küche Tee. Der Gestus einer besänftigenden Umarmung ist nicht ihr Ding. Mit diesen hochgerissenen Armen wird sie sich vielmehr schreiend den Hang hinunterstürzen, um Claras Feinde aus dem Tal zu verscheuchen. Von ihrer Identität als Tomboy wussten damals weder Peter noch ich noch die Autoren des Drehbuchs. „Tomboy“ ist eine amerikanische Erfindung. Es hätte auch nicht zum Konzept dieser idyllischen Kinderserie gepasst, die auf einem Schweizer „Jungmädchenbuch“ der letzten Jahrhundertwende beruhte und nicht unbedingt zur Liebe zum eigenen Geschlecht erziehen sollte. Aber zum Glück passt nicht immer alles zusammen.
Gestern fuhr ich ins Tal zum Abendessen. Die Besitzerin des Restaurants trug Dirndl und schwebte wie eine Prinzessin durch ihr uriges Lokal, in dem noch vereinzelt Leute mit klobigen Skischuhen saßen. Die Aprés-Ski-Party war gerade vorbei. Die Gesichter waren gut durchblutet von Bergluft und Jagertee. Die Besitzerin war Italienerin, sprach aber beinahe makellosen Kärntner Dialekt. Auch ihr blasser Teint und ihr Make-up waren makellos. Sie hätte ohne weiteres Clara sein können, die blasse Clara aus der Serie, ein paar Jahre älter. Sie erzählte mir, dass sie Potsdam schön gefunden habe, als sie einmal dort gewesen sei. Später erwähnte sie den Bachmann-Literatur-Wettbewerb in Klagenfurt. Sie verwechselte Bachmann mit Musil, aber das machte nichts. Sie wollte, dass ich mich zu Hause fühlte. Als Schriftstellerin in Kärnten angekommen. Während wir redeten, versuchte ich, sie mir in Potsdam vorzustellen. Wie sie in ihrem Dirndl und den Trachtenpumps übers Kopfsteinpflaster der Gutenbergstraße schwebt. Wie die als Kärntnerin verkleidete italienische Prinzessin aufatmet, als sie die Friedenskirche sieht, als sie die Römischen Bäder und das Krongut entdeckt. Sie ist gerettet, das ist ihre Alm. Schon sieht sie das milde Licht ihrer Heimat auf den Fassaden spielen. Potsdam ist näher an Italien als Kärnten. Sie überlegt sich, ob sie übersiedeln soll. An guten Lokalen hat Potsdam noch Nachholebedarf, es wäre keine schlechte Geschäftsgrundlage. Aber dann beginnt sie ein Gespräch mit einem Parkwächter oder macht den Fehler, in einem Café einen Sonderwunsch zu äußern, und ihr wird klar, dass es irgendwie nicht stimmt. Die Architektur wirkt auf einmal wie eine Kostümierung. Die Gebäude wurden von einem Preußischen König erbaut. Sie sitzen Potsdam so angegossen wie das Dirndl am Körper einer Italienerin.
Es stimmt nicht. Aber es passt.
Ich habe nichts Italienisches an mir. Ich habe auch nichts Royales an mir. Die Thronfolgen von Königshäusern konnte ich mir noch nie merken, und die vielen brandenburgischen Friedrichs und Wilhelms bringe ich konsequent durcheinander. Zugegeben, die Markierungslinien männlicher Machterhaltung interessieren mich zu wenig. Und doch ertappe ich mich in letzter Zeit bei einer merkwürdigen Regung. Es macht mich stolz, in den Nockbergen mit einem Potsdamer Kennzeichen herumzufahren. Als hätte ich für dieses P eine irre Leistung vollbracht: dort zu wohnen und die Nebenkosten zu bezahlen.
Natürlich kenne ich die Floskeln der Stadtpolitik. Eine dieser Floskeln besagt, dass man stolz sei auf eine Stadt, in der es sich zu leben lohne. Aber sind solche Floskeln nicht auch Kostümierungen? Man könnte diesen Satz auch umdrehen. Eine Stadt, in der es sich nicht zu leben lohnte, hätte wohl keinen einzigen Einwohner. Selbst die hässlichste sozialistische Arbeiterstadt wurde mit solchen Floskeln aufgehübscht. Die Neubaublockwohnung mit Wäscheplatz hinterm Haus, für die man die Nebenkosten zahlt, lernt man zu mögen, oder man macht sich auf und davon. Der so unverdiente Stolz jedenfalls scheint etwas anderes auszudrücken. Er erklärt mir, was sich nicht erklären lässt, wofür es keine Wahrheit gibt: Warum ich ausgerechnet hier und nicht woanders bin. Solange ich stolz bin auf meine Stadt, ist mein Wohnort nicht beliebig.
Gründe kann es viele geben. Man ist in einer Stadt geboren. Man hat dort Arbeit gefunden. Man hat sich in eine Einwohnerin verliebt oder eine Villa geerbt.
Es ist also ganz egal, von wo aus ich Potsdam sehe. Mein Zuhause wird immer ein Traumgebilde sein. Denn „es ist mit der Wahrheit wie mit der Sonne“, schrieb der berühmte schwedische Autor Hjalmar Söderberg, der seine Heimatstadt Stockholm verließ und freiwillig nach Kopenhagen ins Exil ging, „ihr Wert für uns hängt einzig und allein von der richtigen Distanz ab.“
Die Schriftstellerin Antje Rávic Strubel schreibt an dieser Stelle alle drei Monate zum Thema Potsdam
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