Kultur: Was Stuhl so sein kann
Die „Potsdamer Kunstgenossen“ haben sich intensiv mit dem bekannten Sitzmöbel beschäftigt
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Der Stuhl ist männlich. Das muss zuerst einmal ganz klar herausgearbeitet werden, sonst versteht man das aktuelle Projekt der „Potsdamer Kunstgenossen“ womöglich nicht ganz. Gemeint ist jenes Sitzmöbel, dessen deutscher Name von „stehen“ kommt. Wie viel mehr mit so einem Ding anzustellen ist, zeigte die international besetzte Künstlerinnenformation mit Sitz im Treffpunkt Freizeit am gestrigen Mittwoch auf der Brandenburger Straße.
Zwölf holde Damen hatten sich hier die Mühe gemacht, aus einem plumpen und zum Teil verschrotteten Möbelstück etwas Besseres, oder zumindest etwas Schöneres zu basteln, man musste das ja nicht gleich Kunst nennen. Gut zwei Dutzend dieser so wieder ehrbar gewordenen Stücke standen unter dem Motto „Beseelte Stühle“ gleich neben einem Blumenladen zum Schauen bereit, alles Originale für eine spätere Versteigerung. Eitel Sonnenschein und freundliche Passanten. Jemand sagte im Vorübergehen zu seinem Begleiter: „Guck mal, hier gibt’s Stühle.“ Dieser Banause hatte glatt übersehen, dass es hier um Veredlung, nicht um schnöden Pragmatismus ging.
In der Gesamtschau ließ sich dieses vielbeinige Gewimmel ja auch bunt und neckisch an. Jeanette Goldmann glaubte sich „Dem Himmel ein Stück näher“, wenn sie zwei gekreuzte Damenbeine mit schwarzen Strumpfhosen auf das stehende Sitzmöbel setzt, dessen verlängertes Hinterbein oben in einer Goldkugel mündete. Jutta Römer nannte ihr mit Zeitungen beklebtes Objekt sehr unmännlich und blauäugig „Welthüterin“, Eva Kowalski stürzte den ihren einfach um, fertig war ein „Präzises Chaos“ in hellem Grau. Andere – wie soll man diese Vierbeiner jetzt nur nennen – waren mit naturähnlichem Grünzeug bepflanzt, hatten Dornröschens Zöpfe oder mutierten als „Beatnik“ gar zur Goldplüschkiste. Nebeneinander „Carmen“ und „Don Giovanni“ mit Riesenhirschgeweih, eine „Kriegerin“ mit Sense und Wurfgestein, ein deutlich männliches und ein deutlich weibliches Ding stritten wie die Indianer um „Emanzipation“ in der post-industriellen Gesellschaft. Am tiefsten in der Auseinandersetung gab sich da vielleicht Stella Sanders kleiner Hochaltar „Heilig“ mit dem Marienbildchen.
Kein Mann unter den Ausstellern, obwohl Jutta Römer ihrem filmumwickelten Sitzgerät ausdrücklich den Spruch „Das Ganze ist nicht mehr als die Summe der Teile“ mitgegeben hatte. Hier aber ging es nicht ums Ganze, um die Einheit, hier ging es nur um die Frau. Entsprechend deutlich, teils mit dem feministischen Holzhammer, wurde dann auch im Publikum agitiert: Wie sie es heute doch schwer hätten in dieser dominanten Männerwelt. Geknechtet und entrechtet seien sie, fast schon seit Jahrmillionen, das müsse doch auch mal gesagt werden!
Aber was hatte das denn nun mit diesem purzelbunten Stuhl-Universum zu tun, fragte man sich da als Betrachter. Waren die Zungen einiger Damen etwa fleißigr als ihre werkelnden Hände, ihr Tun nur Tendenz, Ideologie nach den Winden der Zeit? Dann sollte man die ganze Aktion lieber vergessen, auch wenn deren Produkte noch im Kultusministerium gezeigt werden. Da wird man schon von Amts wegen freundliche Worte wählen.
Die Auktion der „Beseelten Stühle“ findet Mitte September in den Bahnhofspassagen statt, unter dem elastischen Titel „Toleranz“. Wahrscheinlich zugunsten des geknechteten Weibes. Oder für hübschere Stühle? Man weiß es nicht genau. So ein unschuldiges Möbel kann ja so schrecklich vieles sein: Sinnträger für windige Gedanken, Metapher für Welthüterinnen und Amazonen, für Dornröschens und Chaos-Objekte, für Feministinnen und alle, die lieber über die weitere Dehnung des Begriffs „Toleranz“ nachdenken als über ihre notwendigen Grenzen. Toleranz meint ja immer nur sich selbst. Aber wie sagt doch das Sprichwort: Auf hohen Stühlen sitzt man schlecht! Gerold Paul
Gerold Paul
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