zum Hauptinhalt

Kultur: Weder Monster noch Engel

Slavenka Drakulic im Einstein Forum über das Böse und Gute im Menschen

Stand:

„Man stellt sich die Frage“, Slavenka Drakulic stößt diese Worte energisch und in gebrochenem Englisch hervor, „ob man selber töten könnte – und muss sich eingestehen, dass man es nicht weiß!“ Sie ist überzeugt: Wenn wir Verbrecher als Monster bezeichnen, dann nur, um uns selbst zu verteidigen. Um uns beruhigen zu können, dass wir selber zu wirklich furchtbaren Gewalttaten niemals in der Lage wären.

„Es ist einfacher im Winter über das Böse nachzudenken“, kommentiert die kroatische Autorin und Journalistin Slavenka Drakulic unlängst das halb gefüllte Vortragszimmer des Einstein Forums. Von draußen scheint Frühlingssonne durchs Fenster. Die Autorin nestelt an ihrem tropfenförmigen Silberohring während sie vom Krieg in ihrer Heimat erzählt. Die Kroatin hat mit den Büchern „Sterben in Kroatien“ und „Keiner war dabei“ ihre persönlichen Begegnungen mit dem Bösen im Menschen aufgearbeitet. Das brachte ihr viel Verwunderung ein: „Warum schreibst Du über Kriegsverbrecher? Was gibt es da zu schreiben? Das sind Monster!“ Sie kontert solche Kommentare mit dem Verweis darauf, dass die gewöhnlichsten Leute die furchtbarsten Verbrechen begangen haben. „Wenn es sich um eine Ausnahme handelte, wäre es uninteressant. Dann könnten wir nichts daraus lernen!“ Sie aber möchte verstehen, warum die gewöhnlichsten Taxifahrer und Kellnerinnen hinter den Glasscheiben in den Gerichtssälen sitzen, die sie vor dem Zorn der Angehörigen ihrer Opfer schützen sollen. Und sie erkennt: „Auch wir persönlichen Leute haben das Potential, diese Verbrechen zu begehen.“

Persönliches Schicksal führt sie in den vergangenen Jahren dem anderen Extrem zu. Nach der hochpersönlichen und couragierten Auseinandersetzung mit dem Bösen erlebt sie an eigenem Leib das Phänomen extremen Altruismus. In den USA spendet eine junge Frau ohne irgendeine Art der Gegenleistung der ihr vollkommen unbekannten Autorin anonym eine ihrer Nieren, was Slavenka Drakulic das Leben retten soll. Seit fünf Jahren gibt es solche Spendenaktionen in den USA mit mittlerweile fünfhundert Spendern. Sie fragt sich erneut: „Kann man so einen extremen Akt von Altruismus verstehen?“ Wenn diese Menschen ihre Niere für Geld gespendet hätten, dann gäbe es wenigstens ein rational verständliches Motiv! Aber so?

Die kroatische Autorin sucht die junge Frau und andere amerikanische Spender auf, um sie nach ihren Beweggründen zu befragen. Sie schreibt ein Buch darüber, das bald erscheinen wird und entdeckt Erstaunliches dabei. Der Großteil der Nierenspender waren wiederum ganz gewöhnliche Leute. Von einigen Priestern abgesehen, haben sie die Entscheidung völlig unreflektiert getroffen, nachdem sie von entsprechenden Spendenfällen durch die Medien erfahren hatten. Im amerikanischen Fernsehen würden solch extreme Altruisten ganz einfach Engel genannt.

„Wir gewöhnlichen Leute haben also alle das Potential zum extrem Bösen und extrem Guten“, Slavenka Drakulic macht eine vehemente Geste, „und sagen Monster und Engel nur, weil uns die Verantwortung zu sehr belasten würde!“ Eines könne man in dieser mysteriösen Sache dabei aus ihren Büchern lernen: „Wir können jeden Tag die feinen Unterschiede erkennen, ob wir in die eine oder andere Richtung gehen!“Friedmar Tielker

Friedmar Tielker

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })