Kultur: Wende in der Grube
„Der Fall – Mauer, Mord, Moneten“ uraufgeführt
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Nichts Genaues weiß man nicht – das war das Motto des Theaterjugendclubs angesichts des Jubiläumsmarathons zu Ehren des 20. Jahrestages des Mauerfalls, der in diesem Herbst gefeiert werden wird. Da die heutigen Jugendlichen damals entweder noch nicht geboren oder noch Kleinkinder waren, ist die Form, die die Gruppe nach intensiver Recherchearbeit gefunden hat, folgerichtig: Als Rätsel und Kriminalstück mit unglaublich vielen Verdächtigen wird die Wendezeit an das kollektive Bewusstsein geholt.
„Vorhang zu und alle Fragen offen“ könnte die kluge Essenz am Ende des Stückes für die Zuschauer lauten. Diese wurden auf ein Podest geführt, von dem aus sie auf die gleich hohe Empore der Bühne und in einen dazwischen liegenden, sehr tiefen Graben schauen konnten: Gleichauf war die Jetztzeit, in der sich ein Journalist (Daniel Kilzer) mit seiner Assistentin (Theresa Dietrich) damit abmühte, Licht in das Dunkel um die Geschichte des Geldkoffers zu bringen; und das Dunkel lag unten tief im Graben der Wendezeit. Unbrauchbar die im Geldkoffer gefundenen Scheine: Millionen Ostmark sind der Zeitung nicht einmal einen Aufmacher wert, das wird unter „Panorama“ abgehakt.
Doch damals war das Geld wohl auch für die Pfarrerin (Bonnie Böhme) mit langem Talar und blonden Locken so reizvoll, dass sie sich an einem Vorwendetag im Warteraum des Bahnhofs aufhält. In diesem Warteraum befindet sich auch der Koffer, den sie mit nach Hause nimmt und der zwanzig Jahre später mitsamt ihres Portemonnaies vom schwer berlinernden Bauarbeiter (Johannes Keller) beim Schippen gefunden wird.
Als Grabungsarbeiten an den Bruchstücken unbekannter Erinnerung haben die Mitglieder des Theaterclubs ihre Arbeit am Wende-Stück, dessen Text sie selbst verfassten, wohl selbst empfunden. Langsam entfalten sich die Lebenssituationen der Verdächtigen, die im Warteraum vereint sind: Die unglücklich verheiratete Paulina Schröter (Henny Schwarz) wartet auf den Zug, der sie nach Hamburg zur Hochzeit einer Cousine bringen wird, wo sie sich verlieben wird. Später sitzt sie mit dem Wessi Thorsten (Axel Perenz) da unten in der Grube an dem mit Kreide aufgezeichneten Tisch und isst eingebildeten Hummer und trinkt eingebildeten Chardonnay. Die beiden verstehen sich nicht, und das hat weniger mit dem Hummer zu tun als mit ihren unterschiedlichen Biographien.
Auch das Treffen einer ehemaligen begeisterten Jungen Pionierin (Sophie Roed ler) mit einem Klassenkameraden fällt unsanft aus: Die Garderobe, an der sie ihre Jacke aufhängen will, existiert nur in ihrer Vorstellung, die Jacke fällt auf den Boden. Dort ist mit Kreidestrichen die Wohnung gezeichnet, die gleich neben der Amtsstube des Volkspolizisten endet. Ein guter Regieeinfall, diese Vergangenheitskonstellationen schön im Ungewissen zu lassen.
Dass der Grenzpolizist Tilmann Keller (Peter Retzlaff) erst einen Flüchtigen erschießen muss, um sich und seinen Vorgesetzten Fragen zu stellen, scheint als persönliche Wende ein bisschen gewagt; und dass das Zwillingspaar Sabine und Klaus Metz (Kathrin Henschen und Maximilian Ulrich) bei ihrer abenteuerlichen Republikflucht am Babelsberger Park mitsamt Auto in die Havel hüpfen und unbehelligt im Westen, später wieder im Osten auftauchen, doch ein bisschen abenteuerlich.
Aber egal, Krimi ist Krimi, und da müssen Verdächtige ordentliche Schalck-Golodkowski-Connections haben und das Triptychon aus der Kirche von Frau Pfarrer sehr wertvoll sein, wenn Klaus Metz mit dumpfer Wucht die blonde Talarträgerin erschießt. Dass aus der kruden Geschichte doch noch Erkenntnisse fließen, ist unter anderem auch der „Akte“ (Ann-Kathrin Mahlow) zu verdanken, die aus Stasi-Protokollen und Polizeiberichten Tathergänge liest. Als (unmögliche) Rekonstruktion einer vergangenen Zeit funktioniert das Stück gut, dem Krimi fehlt vielleicht ein bisschen Spannung. Lore Bardens
Lore Bardens
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