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Kein Wohlfühlstück. „Mensch Karnickel“ hat einen aktuellen Bezug.

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„Mensch Karnickel“ am Hans Otto Theater Potsdam: Wenn die äußere Flucht zur inneren wird

Das Jugendstück „Mensch Karnickel“ am Hans Otto Theater wirft aktuelle Fragen im historischen Gewand auf

Von Sarah Kugler

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Es wird geflüstert über ihn, mit dem Finger auf ihn gezeigt. In den Köpfen der vorübergehenden Menschen wird er zum Schmarotzer, Dieb und Landstreicher. Dabei ist er nur ein kleiner Junge auf der Suche nach seiner Familie. Verloren gegangen in den Wirren des Krieges, verloren gegangen in sich selbst, verängstigt und verstört. Gruselig aktuell kommt die Inszenierung von Rudolf Herfurtners Geschichte „Mensch Karnickel“ daher, die am gestrigen Mittwoch unter der Regie von Kerstin Kusch Premiere in der Reithalle in der Schiffbauergasse feierte.

Gruselig deshalb, weil das Stück zeitlich nach Ende des Zweiten Weltkrieges angesiedelt ist und trotzdem viele Parallelen zur aktuellen Flüchtlingssituation aufzeigt: Clemens Graber (Jan Jaroszek) wird von seiner Mutter (Kristin Graf) während des Krieges mit der Kinderlandverschickung vor den Bomben in Sicherheit gebracht. Gegen Kriegsende flieht er vor der russischen Armee und geht dabei verloren. Seine Mutter, inzwischen neu verheiratet, gibt die Hoffnung auf ein Wiedersehen nie auf, was ihren Stiefsohn Timo (Florian Lenz) stark verunsichert. Als Clemens dann den Weg nach Hause findet und die Mutter mit dem „neuen“ Sohn sieht, traut er sich nicht, sich erkennen zu geben, während Timo alles tut, um seine Familienposition zu behalten.

Es sind mehrere Ebenen, die Regisseurin Kerstin Kusch hier aufmacht: Zum einen erzählt sie die Geschichte einer Familie, die sich in ihrer Not neu zusammengesetzt hat und nun in ihrem Frieden bedroht scheint, wenn die Vergangenheit sie in Form des verlorenen Sohnes einholt. Schon allein diesem Prozess zuzusehen, ist herzzerreißend und von den drei Darstellern wunderbar gespielt. Jan Jaroszek als Clemens ist so verstört, dass er nur durch seinen Talisman, eine Kaninchenpfote, spricht. Nur ganz selten bricht der echte Clemens durch, der nie wirklich verrät, was er während des Krieges und danach erlebt hat. Während er als Kaninchen selbstsicher, fast gut gelaunt durchs Leben geht, versteckt sich seine wahre Persönlichkeit in seinem tief verunsicherten Selbst, das keinen Platz mehr in der Welt zu haben scheint. Jaroszeks Spiel geht unter die Haut, gerade dann, wenn durch Filmprojektionen kleine Schnipsel seiner Heimreise offenbart werden. Immer wieder bellen ihm Schäferhunde entgegen oder Türen schlagen laut wie Bomben zu, während Clemens sich ganz klein zusammenrollt. Florian Lenz als Timo gibt das perfekte Gegenbild: Ein Junge aus einigermaßen wohlhabenden Verhältnissen, der sich sich für Autorennen interessiert. Jetzt, da seine heile Welt bedroht wird, kompensiert er seine Angst mit Wut, die Lenz herrlich vorpubertär darzustellen weiß. Wie er bockig die Lippen zusammenpresst und die Verlustangst ihm aus jeder Pore leuchtet, ist wunderbar anzusehen. Kristin Graf als Mutter steht genau zwischen diesen beiden Positionen, ist emotional überall gleichzeitig angesiedelt. Angst, Verwirrung, Freude, Unsicherheit, all das spiegelt sich in ihrem Gesicht wider und vermittelt dem Zuschauer eine Zerrissenheit, die fast unangenehm ist.

Und das ist gut so. Denn „Mensch Karnickel“ ist kein Wohlfühlstück, darf es auch gar nicht sein, dafür ist das Thema viel zu brisant, der Geschichtenverlauf zu beklemmend. Und auch wenn die beiden Jungen – in dem, für ein Kinderstück angemessenem Aufatmungsmoment – am Ende friedlich in der Seifenkiste zusammen ein Rennen starten, bleiben doch einige Fragen im Raum stehen. Wie empfängt man Menschen, die verstört aus dem Krieg kommen und Hilfe suchen? Die Familie und Heim verloren haben? Wie geht man um mit der Angst derer, die sich bedroht fühlen in ihrer Existenz, in ihrem Frieden? Genau diese Fragen sind es, die das Stück auf eine zweite, aktuelle Ebene heben, da es genau diese Fragen sind, denen wir uns tagtäglich stellen müssen und sollten. Und es sind diese Fragen, die „Mensch Karnickel“ zu einem Stück macht, das noch lange nachhallen wird. Sarah Kugler

„Mensch Karnickel“ wieder am kommenden Mittwoch um 14 Uhr in der Reithalle in der Schiffbauergasse, Karten kosten 12 Euro

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