
© Klaartje Lambrechts
Kultur: Wenn die Freiheit an die Füße leckt
Am Sonntag endeten die Tanztage in der „fabrik“. Eine Rückschau
Stand:
Der eigene Körper ist genug. Er ist die Maßgabe für den Rhythmus. Musik, den Rhythmus anderer, dem man – mal lustvoll, mal widerwillig – folgt, braucht das postmoderne Individuum nicht. Der Mensch, so klang der stumme Schrei der Tanztage, die am Sonntag nach knapp zwei Wochen zu Ende gingen, ist wichtig genug. Er braucht kein ihn und seine Bewegungen formendes Gerüst. Er steht oder liegt nackt da – und ist uns dabei näher, als er uns durch jede künstliche Überformung kommen könnte. Statt Musik also: Schreie, Keuchen, Schnaufen, Singen. Die Musik holten die Tänzer aus sich selbst.
Da waren die zwei jungen Männer, die sich anschrien, das Echo im Mund des anderen ausloteten, bis aus der gegenseitigen Aggression Simon and Garfunkels „Bridge over troubled Water“ wurde, eine perfekte, zweistimmige Harmonie. Das war Jakob und Pieter Ampes wunderbar alberne Performance „Jake and Pete’s big reconciliation Attempt for the Disputes from the Past“, eine Variation über Liebe und Hass zwischen Geschwistern.
Rage und Ruhe, Zorn und Zärtlichkeit formten auch die acht Mädchen in „Girls“ allein mit ihrem Atem – jede für sich. Trotzdem fanden sie dabei als Gruppe ihren Beat, eine gemeinsame Frequenz, auf der sie entlangtanzen konnten.
Noch mehr mit dem eigenen Körper, aber ganz ohne Stimme erzeugten Lia Rodrigues’ Tänzer einen ebenso zärtlichen wie beängstigenden Sound: Bis in die letzten Winkel der riesigen Schinkelhalle war das leisen Plitschen zu hören, wenn sie ihre nackten Körper langsam über die mit Wasser gefüllten Kondome rollten und diese so zum Platzen brachten. Und auch sie waren auf der Suche nach einem wie auch immer gearteten Zusammensein, das sich in Pfützen ausbreitende Wasser wurde zum Gleit- und Schmiermittel zwischen den Tänzern – und zog zugleich eine scharfe Trennlinie zum Publikum. Das stand zwar mit nassen Füssen mitten im Geschehen, drängte sich irgendwann zum bedrohlichen Mob um die Tänzer, und blieb doch ein Fremdkörper. Voyeuristisch, plump, privilegiert in seiner Angezogenheit – und damit feindlich gegenüber den Tänzern, ohne es sein zu wollen. Wie sich die Tänzer am Ende nackt und verzweifelt aneinanderklammerten, übereinanderkletterten, stapelten, waren sie alle ganz unvermittelt da, die Gräuel der Moderne.
Dieser Moment, in dem man sich in seinem eigenen Zuschauer-Sein so abstoßend fand, in dem man über die eigene Gier so erschrak, war vielleicht der entscheidende Moment für das ganze Festival. Die Auflösung aller Grenzen leckte buchstäblich schon an die eigenen Füße, trotzdem blieb jeder vereinzelt. Nie war während einer Tanzperformance wohl weniger Liebe im Raum als hier. Statt Solidarität größtmögliche Distanz.
Vom Schwinden der Liebe erzählte auch Jan Martens „Sweat Baby, Sweat“. Kimmy Ligtvoet und Steven Michel machten sich darin auf die schweißtreibende Suche nach der richtigen Balance in einer Beziehung: Nähe und Distanz, Tragen und Getragenwerden. Auch hier hätte ihr ineinanderfließender Schweiß zum Kitt, zur Brücke werden können. Doch was von außen nach unantastbarer Nähe aussah, zerschmolz nach und nach. Nicht an der Schwäche, sondern an der Stärke der beiden Individuen. Einsam kroch jeder am Ende ins Dunkle. Begleitet allerdings von Cat Powers blind hoffendem Gesang. Die Musik, lernte man, rettet in der Postmoderne auch keinen mehr, sie ist nur noch Mittel der Ironie. Mit der lässt sich das ganze Elend der Vereinsamung immerhin besser ertragen.
Unerträglich, das heißt bis an die Schmerzgrenze der Zuschauer gehend, war Kat Válasturs „Oh! Deep Sea-Corpus III“, eine zeitgenössische Odyssee. Vier Menschen sah man da zu, wie sie sich quälend langsam, wie im Stroboskop-Licht zitternd abmühten. Sich aufrichteten. Wieder zusammensackten. Wieder aufrichteten. Getriebend von einer unsichtbaren Kraft, vielleicht dem dräuenden Industriesound, der immer wieder durch das T-Werk dröhnte. Keiner von ihnen schien überhaupt daran zu denken, den anderen näherzukommen. Nur in kurzen Pausen standen die Tänzer, scheinbar plaudernd, am Bühnenrand. Als ob Zigarettenpausen die einzige Auszeit wären, bevor wieder jeder für sich um Glück und Anerkennung kämpft.
Mit körperlicher, das heißt in diesem Fall tänzerischer Perfektion zeigten Lali Ayguadé und Nicolas Ricchini Facetten der menschlichen Unvollkommenheit – als ob die nur erlaubt wäre, wenn sie hübsch verpackt daherkommt. Wirklich befreit schienen am Ende nur die ganz Jungen: Der 15-jährige Ethan aus „Pour Ethan“, die „Girls“ – und Heddy Maalems Krump-Tänzer aus der Pariser Banlieue. Befreit von falscher Ehrfurcht tanzten sich Maalems Kids durch das Korsett europäischen Musikgeschichte, um am Ende mit Hip-Hop alle Grenzen niederzureißen. Und sind die erst einmal offen, kann Musik, kann der richtige Beat wieder zum Werkzeug der Kommunikation werden.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: