zum Hauptinhalt

Kultur: Wenn die Sonne nicht gehen will

„Midsommar Nacht“ in der Schiffbauergasse: Allerlei Schwedisches im Waschhaus

Stand:

In den kürzesten Nächten des Jahres sitzt der Schwede an der Schärenküste und blickt auf die Sonne, die nicht unter gehen will. Der Besucher der „Midsommar Nacht“ braucht da schon eine gute Portion Fantasie, um auf dem tümpelreichen Sandplatz im Schirrhofgeviert in die richtige Stimmung zu kommen. Der Wurstbräter hielt schwedische Fleischbällchen „Köttbullar“ bereit, der Getränkewagen schwedisches Bier. Die Kinder, für die der lange Nachmittag die größten Freuden bereithielt, taten sich am Leichtesten. In den Pausen durchwateten einige von ihnen die große Pfütze, die sich vom Eingang des Kunstraumes fast bis zum T-Werk erstreckte.

Auf Bastkissen hockten vierzig oder fünfzig kleine Zuhörer zwischen den Werken von Mikala Dwyer, um sich im Kunstraum von Andreas Erfurth und seiner Hörlounge die Geschichte von Michel aus Lönneberga vorlesen zu lassen. Den Hauptteil übernahm die Schauspielerin Birgit Würz. Kai Frederic Schrickel, ein Dritter Vorleser, hatte als Michels Vater die Aufgabe, dem frechen Michel, der im Original von Astrid Lindgren eigentlich Emil heißt, mit Arrest im Holzschuppen zu drohen: „Du Lümmel, Du!“ grollte seine auf Tief gestellte Stimme. Die Kinder um ihn herum fanden das nur mäßig komisch.

Länger als eine Viertelstunde können die ganz Kleinen nicht ruhig bleiben. Ihre Ungeduld wurde vom Musiktheater Pampelmuse in Empfang genommen. „Wer den Mut hat, der klatscht mal in die Hände“, animierte Thomas Knabe die erschöpften Wesen, die dadurch langsam wieder zu mehr Lebenskraft fanden. Sie sollten den Nachbarn ins Ohr zwicken, was ihrem Gemüt mehr entsprach als ihn auch zu küssen. Weder die Geschichten noch die Lieder fühlten sich zwischen den weißen, Widerhall produzierenden Wänden des Kunstraums besonders wohl.

Anders im T-Werk. Hier erzählte Suse Weiße eine Sage über ein Königspaar, das einen kleinen Drachen zu Welt bringt. Ohne Manuskript und nur mit ganz wenigen Requisiten fesselte sie die Konzentration nicht nur der jungen Zuhörer. Suse Weiße entwickelte die Respekt einflößende Autorität einer Geschichtenerzählerin. Während dieser Stunde war kein Pieps zu hören. Spielzeugautos können durch diese erzählerische Kraft sogar zu Rosen werden, Zündholzschachteln zu brennenden Königshäusern. Der junge Lindwurm will heiraten, frisst aber alle Prinzessinnen sofort auf. Bis der König auf die Tochter eines Schäfers trifft. Dann kann auch dieses Märchen gut enden.

Endlich werden auf dem Hof Feuer angezündet, der Zaun des alten Waschhausgartens wird verheizt. Für Kinder gibt es nichts Schöneres, als geschmacksneutralen Teig an einem Stock über einem lodernden Feuer zu Kohle verbrennen zu lassen. Knüppelbrot ist die Sensation des Potsdamer Midsommars. Die drei pantomimischen Stelzenläufer der Gruppe Grotest Maru schweben viel zu hoch, dass ihren Kaspereien viel Aufmerksamkeit geschenkt werden würde. Obwohl mit Beinverlängerungen von beachtlicher Höhe ausgestattet, wagen es selbst die Künstler nicht, die tiefste Pfütze zu durchwaten. Auch die vier Gestalten in grellbunten Ganzkörperplüschkostümen stehen etwas abseits. Es sind die „Emmett-People“, die aussehen wie die Kreuzung zwischen Gartenzwerg und Schlumpf. Sie laufen schon einmal Werbung für das Fluxus-Museum.

Plötzlich sind alle Kinder verschwunden. Bettzeit. Zwanzig Erwachsene sitzen bei der Theaterspedition aus der Prignitz in der Falle eines szenischen Liederprogramms, Dauer: fast eineinhalb Stunden. „Lalalala“ singt sich die Finnin Hanna-Liisa Koistinen-Purps in ihren Auftritt. „Wer bin ich? Was bin ich? Wo bin ich?“ lauten die komplexen Fragen, die mit grober Gefühligkeit jedenfalls nicht abschließend beantwortet werden können. Die elektrische Gitarre von Chady Seubert hat nur drei Saiten und klingt auch so. „Tja“, sagt Hanna-Liisa Koistinen-Purps zu Chady Seubert, „der Goethe war echt ein kluger Mann.“ Beide nennen sich ganz kämpferisch Eva, haben rot gefärbte Haare, jede Menge Identitätsprobleme und lassen ihr Publikum zur Genüge wissen: „In Wirklichkeit zählt nur die Liebe.“

Gemordet wurde jedoch erst anschließend, und zwar ausschließlich literarisch: die Hörlounge vertrieb die Zeit bis zum Beginn des schwedischen Film mit vorgelesenen schwedischen Krimis.

Matthias Hassenpflug

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })