Kultur: Wenn nur noch eine Möglichkeit bleibt
Michael Philipp stellte in der Stadt- und Landesbibliothek sein Buch über politische Rücktritte vor
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An Peter Gloystein wird man sich noch lange erinnern. Im Mai 2005 stand der Wirtschaftssenator auf dem Bremer Marktplatz und eröffnete ein Weinfest. Dabei übergoss Gloystein mit breitem Grinsen im Gesicht von der Bühne herab den Obdachlosen Udo Oelschläger mit dem Inhalt einer Magnum-Flasche Winzersekt und den freundlichen Worten: „Hier hast Du auch etwas zu trinken“. Die Bild-Zeitung titelte am Tag darauf: „Politiker dreht durch. Sektanschlag auf Obdachlosen“. Peter Gloystein blieb nur noch eines, seinen Rücktritt zu erklären.
Als Michael Philipp am Mittwochabend in der Stadt- und Landesbibliothek vor über 30 Zuhörern diese Episode aus seinem Buch „Persönlich habe ich mir nichts vorzuwerfen. Politische Rücktritte in Deutschland von 1950 bis heute“ vorlas, sorgte das für viel Gelächter. Doch lag das weniger an Gloysteins Aussetzer auf dem Bremer Marktplatz, sondern an seinen Versuchen danach, die ganze Angelegenheit zu verharmlosen. Zuerst wollte Gloystein dem Obdachlosen Oelschläger seinen teuren Montblanc Kugelschreiber „als Entschädigung“ schenken. Dann nannte er seine Sektattacke gar einen „integrativen Akt“, weil er Oelschläger den belebenden Tropfen eigentlich in den Mund kippen wollte. Auf die Frage von Journalisten, warum Gloystein dabei so breit gegrinst habe, antwortete sein Sprecher: „Der Senator guckt immer freundlich“.
Der 45-jährige Michael Philipp, der hauptberuflich als Kurator des Bucerius Kunst Forums in Hamburg arbeitet, hat in seinem Buch über 250 Rücktrittsfälle zusammengetragen. Darunter spektakuläre Fälle wie die Rücktritte von Bismarck, Adenauer, Brandt und Barschel. Nicht jeder davon ist mit solchen skurrilen Anekdoten angereichert, wie der Rücktritt von Peter Gloystein. Doch gelingt es Philipp auf den knapp über 400 Seiten das Phänomen Rücktritt in der deutschen Politik an den unterschiedlichsten Beispielen mit einer klaren und pointierten Sprache einzuordnen und zu analysieren, dass der Leser sich fast immer so unterhalten fühlt wie bei Peter Gloysteins Eskapaden.
Gründe für das fast schon alltägliche Phänomen Rücktritt sieht Philipp in der Selbstüberschätzung und dem Realitätsverlust von Politikern, wie er im anschließenden Gespräch mit Günter C. Behrmann, Politikprofessor an der Universität Potsdam. Für dieses Buch gab es, so Philipp, keine konkreten Anlass. Als Historiker habe ihn das Phänomen Rücktritt interessiert und als er sich damit beschäftigte, erkannte er, dass viele dieser Rücktritte sich in ihren Abläufen ähnelten. Ziel seines Buches sei es, dieses „historische Phänomen inhaltlich zu analysieren“. Dabei hat Philipp sich auf den Politiker beschränkt, der seinen Rücktritt, erzwungen oder nicht, selbst erklärt. Neben politischen, persönlichen und biographischen Gründen, die Philipp in dem Buch sehr differenziert und detailreich beschreibt, hat er sich auch intensiv mit den durch Skandalen beförderten Rücktritten beschäftigt, die er als die unterhaltsamsten bezeichnete. Hier konnte er beobachten, dass oft nicht der eigentliche Grund sondern das Verhalten danach, das Beschönigen, Verschleiern oder Lügen zu den Rücktritten der Politiker führt.
Da der Rücktritt immer auch ein reinigende Wirkung habe und dabei gleichzeitig die Werte einer Gesellschaft auf den Prüfstand gestellt werden, plädiert Philipp dafür, dass der politische Rücktritt als ein „legitimer Akt“ verstanden und nicht mehr nur als „Ausnahmecharakter“ angesehen werde. „Mehr, schneller und öfter“, sagte Philipp. Wobei offen bleiben muss, ob Rücktritte, wenn sie nicht mehr als etwas Außergewöhnliches, sondern als Alltägliches angesehen werden, noch immer die von Philipp angesprochene reinigende Wirkung besitzen werden.
Dirk Becker
Dirk Becker
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