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Kämpfen. Mit sich, ihrem Begehren und all dem, was auf sie projiziert wird. Die Tänzer Luana Rossetti (l.) und U-Gin Boateng.

© Bella Volen

Kultur: Wer reflektiert hier wen?

Drei Stücke junger Performer fragen bei „Temporare“ nach Zuschreibung, Ideal und Wirklichkeit

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Manchmal will man nicht zur Kunst – oder die Kunst nicht zu einem selbst. Vielleicht, weil die Sicht ohnehin versperrt ist und die Menschen vor einem schon drängeln. Was dahinter, in dem abgeschlossenen Vorraum des Kunstraum vor sich geht, kann man am Mittwochabend bei der Premiere von „Temporare“, einem Projekt der Oxymoron Dance Company, nur ahnen. Zunächst. Ein paar der über hundert Besucher schaffen es, durch die beiden schmalen Glasscheiben zu gucken. Der Rest wird erst erlöst, als die Flügeltüren geöffnet werden.

Dahinter offenbart sich dann ein privater Raum, der – über eine Videoprojektion – noch nach hinten erweitert wird. Dort laufen die Fotos, die Hong Nguyen Thai, so heißt der junge Tänzer, in Vietnam aufgenommen hat. Dort ist er geboren und dorthin ist er kürzlich – nach langer Zeit mal wieder – gereist. Anja Kozik, Choreografin, Tanzpädagogin und seit 1992 künstlerische Leiterin des Studios für Tanz und Bewegung im Waschhaus, schätzt seinen Bilder sehr und hat mit ihm das Solo erarbeitet. „Da spürt man diese Wehmut, die wahrscheinlich entsteht, wenn man sich in der Fremde, also in Vietnam, plötzlich zuhause fühlt“, sagt sie. Deshalb haben sie und Hong auch diesen kleinen Vorraum gewählt, der abgeschlossen, zugleich durch die Fenster aber auch eine halb-öffentliche Bühne ist. Darum ging es Kozik und Hong – sich und die Zuschauer zu fragen: Wer ist hier eigentlich draußen – und wer drinnen?

Ein Gedanke, den Hong auch in seinem Tanz fortsetzt. Er denkt die Bilder – von weiten Vorort-Ausfallstraßen, einer Meute Mopedfahrer an einer roten Ampel – mit seinem Körper weiter, er fügt sich ein, obwohl er außerhalb des Bildes ist. Mit ganz weichen Breakdance-Moves, manchmal auch nur mit einer einzigen Position. Etwa wenn er sich vor der nächtlichen Straßenkreuzung zusammenrollt, als wolle er sich auf den Asphalt kuscheln, oder einen schwarzen Schirm aufspannt, der von innen silbern zu leuchten scheint.

Hongs Performance eröffnet am Mittwoch nicht nur den Abend, sondern zugleich auch das neue Format „Temporare“. „Die Idee dahinter ist, Leute mit verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen zusammenzubringen, sie zu ermutigen, genreübergreifende Produktionen zu erarbeiten und sich auszutauschen“, sagt Kozik. Deshalb geht es anschließend auch mit einer DJ-Video-Performance weiter. Das Mischpult ist verborgen in einem white cube aus weißer Gaze, über die mal alte schwarz-weiß-Dokus, mal digitale Animationen flimmern.

Klarer Höhepunkt des Abends ist aber, was dann folgt. Die drei jungen Tänzer Luana Rossetti, Raha Nejad und U-Gin Boateng haben mit Kozic ein reines Tanzstück zu der Musik von Sven Helbig erfunden. Helbig, den Kozic bei den Tanztagen in Eisenhüttenstadt kennengelernt hat, ist keiner, der gefällig ist. Das Stück beginnt mit einem Wummern, das aus einem Stahlwerk stammen könnte. Das sich dann langsam zu einem Bienenschwarm des Todes steigert, dazwischen denkt man manchmal kurz an Strawinskys modernen Tanz-Klassiker „Sacre du Printemps“ – das Frühlingsopfer.

Für manieriertes Gehabe ist da kein Platz. Wenn Rossetti, Nejad und Boateng – in hautengen, Nacktheit simulierenden Trikots, die übrigens das wilde Muster des Bühnenbilds spiegeln – tanzen, geht es um die nackte Existenz. Um Rhythmus und Ekstase, aber auch um das Erstarren. „Wir haben uns viel über Mythen unterhalten, über das Diesseits, das Ideal der Frau, aber auch über dieses abendländische Ideal, immer aktiv sein zu müssen“, sagt Kozik. Heraus kommt – vordergründig – eine Geschichte von zwei Frauen und einem Mann, also das, worum es eigentlich immer geht im Leben: Liebe, Hass, Eifersucht, Rage und Resignation. Die drei sind – bei allem Kämpfen – im Fluss miteinander, sie sind bei all ihren widersprüchlichen Sehnsüchten synchron. Und voll von einer schier unfassbaren körperlichen Energie, die sie über die ganze länge des Stücks durchhalten. Wie schön wäre es, wenn diese Energie auch über den ersten „Temporare“-Abend hinausreicht, die Künstler antreibt – und auch ins Wirtschaftsministerium vordringt, das bislang die erste Ausgabe gefördert hat.

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