Kultur: Wider die Sprachlosigkeit
Der Schauspieler Ulrich Noethen liest aus „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“
Stand:
„Nichts war an diesem Tag schiefgegangen. Fast ein Glückstag.“
Es sind die fast letzten Worte aus Alexander Solschenizyns schmalen und doch so gewichtigen Roman „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“. Als Leser ist man am Ende dieses Tages zusammen mit Iwan Denissowitsch ganz anderer Meinung. Ist froh, nach wenigen Zeilen das Zwangsarbeitslager verlassen zu können, in dem der Zimmermann Iwan Denissowitsch seit Jahren schon von Tag zu Tag versucht zu überleben und weitere Jahre überleben muss. Und dabei seine Menschlichkeit am Leben erhält. Wie Tausende andere, die in Stalins Zwangslagersystem oft aufgrund hanebüchenster Anschuldigungen zu jahrelanger Zwangsarbeit unter unmenschlichsten Bedingungen verurteilt wurden. Am morgigen Sonntag liest der Schauspieler Ulrich Noethen in der Villa Quandt aus „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“.
Vor wenigen Wochen ist von Herta Müller der Roman „Atemschaukel“ erschienen und hat eine Kontroverse über die Frage ausgelöst, ob die sogenannte Lagerliteratur überhaupt glaubwürdig aus zweiter Hand geschrieben werden könne. Wer „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ gelesen hat und auch die drei Bände „Der Archipel Gulag“, dazu die persönliche Geschichte des Autors und Literaturnobelpreisträgers, Alexander Solschenizyn, kennt, der selbst knapp acht Jahre in einem solchen Zwangslager verbringen musste, wird sich wohl für die Berichte aus erster Hand entscheiden. Wer dann auch noch die beiden Kolyma-Bände von Warlam Schalamow kennt, die erst vor wenigen Jahren ins Deutsche übersetzt hat, wird erst recht seine Zweifel an der Glaubwürdigkeit aus zweiter Hand anmelden. Denn so nah, direkt und fühlbar wie bei Schalamow, der zweimal zu jahrelanger Lagerhaft verurteilt wurde und der in seinen Büchern den Schrecken dieser sowjetischen Zwangslager umkreist, bis er den Leser darin förmlich einschnürt, ist wohl bisher nicht über dieses Thema geschrieben worden.
Derart gnadenlos geht Alexander Solschenizyn in „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ nicht mit dem Leser um. Doch dieser Roman, der einem die Monotonie und die eigenen, oft brutalen Gesetzmäßigkeiten des Lageralltags vor Augen führt, war das erste Buch überhaupt, das dieses Thema so schonungslos an die Öffentlichkeit brachte. Und das in der Sowjetunion selbst, wo „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“, der 1962 in der Zeitung „Nowy Mir“ als Fortsetzungsroman erschien. Solschenizyn hat mit diesem Roman etwas zur Sprache gebracht, was tausende Menschen betraf und doch von offizieller Seite mit einer erdrückenden Sprachlosigkeit belegt war.
Liest man diesen Roman nach Jahren wieder, auch mit der Kenntnis über andere Lagerliteratur, kann sich nur schwer der Last entziehen, die auf den Schultern von Iwan Denissowitsch ruht. Und nach wenigen Seiten wird klar, dass es viele aufreibende Bücher über diese Zwangsarbeitslager gibt. Doch Solschenizyns „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ bleibt unübertroffen. Dirk Becker
Ulrich Noethen liest am morgigen Sonntag, 11 Uhr, auf der Terrasse der Villa Quandt, Weinmeisterstraße 46/47. Der Eintritt kostet 8, ermäßigt 6 Euro. Alexander Solschenizyns „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ (7,95 €) ist im Verlag Droemer Knaur erschienen, Warlam Schalamows „Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma I“ (22,80 €) und „Linkes Ufer. Erzählungen aus Kolyma II“ (22,80 €) im Berliner Verlag Matthes & Seitz
Dirk Becker
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