Kultur: „Wie ein Rausch, der alles verändert“ Ulrich Noethen las zur Ausstellungseröffnung
Am 4. August 1914 notiert der französische Literaturkritiker Jacques Rivière in sein Tagebuch: „Das Gefühl, dass ich in einem riesigen Fluss mitgenommen werde, der etwas schlammiger ist, als ich es mir vorgestellt hatte.
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Am 4. August 1914 notiert der französische Literaturkritiker Jacques Rivière in sein Tagebuch: „Das Gefühl, dass ich in einem riesigen Fluss mitgenommen werde, der etwas schlammiger ist, als ich es mir vorgestellt hatte. Wird die Klärung stattfinden können? Diese Reinigung, die ich vom Krieg erwarte?“ Gegen Ende desselben Monats schreibt der deutsche Lyriker Wilhelm Klemm an seine Frau: „Der Krieg ist etwas ungeheuer Großartiges. Wie ein Rausch, der alles verändert.“ Es sind zwei von knapp 20 Stimmen, die der Schauspieler Ulrich Noethen auf seiner Lesung am Mittwochabend in der Stadt- und Landesbibliothek anlässlich der Ausstellungseröffnung „Endzeit Europa“ hörbar werden lässt.
Viele, wenn nicht die meisten Gelehrten, Schriftsteller und Künstler in Europa begrüßten seinerzeit den Krieg. Er galt ihnen als Ausweg aus der kulturellen Krise, in die sich Europa seit 1871 angeblich hineinmanövriert hatte. Als jedoch ein rascher Sieg nicht mehr zu erwarten war und die Zahl der Gefallenen an den Fronten ins Unvorstellbare stieg, wich die anfängliche Euphorie bald einer Ernüchterung, einer gewissen Erschöpfung auch und schließlich dem Wunsch nach Frieden. Sehr gut hat Peter Walther vom Brandenburgischen Literaturbüro diesen mentalen Wandel von anfänglicher Begeisterung hin zu Resignation und Ablehnung des Krieges in einer Collage aus Brief- und Tagebuchauszügen französischer, deutscher, englischer und amerikanischer Schriftsteller nachgezeichnet. Und bravourös versteht es Noethen, mit stets feiner Betonung und durch ein straffes, dann aber wieder bedächtiges und von kurzen Pausen durchsetztes Lesetempo, jeder einzelnen Stimme einen eigenen Klang zu verleihen. So ist die Textsammlung, die Walther teils aus seinem im nächsten Monat erscheinenden Fotoband „Der Erste Weltkrieg in Farbe“ und teils aus dem Band „Endzeit Europa“ von 2008 für die Lesung zusammengestellt hat, dank solch beeindruckender Interpretation zweifellos der Höhepunkt der Ausstellungseröffnung. Die Ausstellung „Endzeit Europa“ war bereits vor sechs Jahren in Potsdam zu sehen und wird nun, anlässlich des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren, noch einmal gezeigt.
Gut 80 Gäste schauen sich an diesem Abend im Foyer der Bibliothek die großformatigen Schautafeln mit den Farbfotografien und den erläuternden Texten an, nachdem ihnen die von Noethen buchstäblich belebten, zeitgenössischen Zitate einen privaten und authentischen Einblick in den Kriegsalltag vermittelt haben. Da ist etwa der französische Journalist und Romancier Maurice Barrès, der durchdrungen von Patriotismus, schnellstmöglich an die Front will. Da ist Thomas Mann, der beklagt, zu Hause bleiben zu müssen, „während alles da draußen für Deutschland blutet“. Da ist der französische Schriftsteller und Musikkritiker Romain Rolland, der seine Freundschaft mit Stefan Zweig über den Krieg hinweg zu retten versucht.
Mehrere Stimmen in diesem Panorama kehren immer wieder und verdeutlichen den Wandel der Ansichten über den Krieg. So auch bei dem französischen Schriftsteller Francois Mauriac, der im August 1914 bereit war, der Republik seine ganze Liebe zu geben. Vier Jahre später, am 20. November 1918, ist er entschlossen, sich „keinen Kopf mehr um die öffentliche Sache zu machen, wenn uns doch nur der Frieden bleibt“. Daniel Flügel
Die Ausstellung „Endzeit Europa“ ist noch bis zum 16. Oktober im Foyer der Stadt- und Landesbibliothek, Am Kanal 47, zu sehen
Daniel Flügel
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