Kultur: „Wie eine Achterbahnfahrt“
Katia und Marielle Labéque beim Sinfoniekonzert im Nikolaisaal
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Katia und Marielle Labéque beim Sinfoniekonzert im Nikolaisaal Der Abend fand seinen Höhepunkt. Zum Ende hin, im großen Auftritt zweier Schwestern, die ganz bescheiden die Bühne betraten und dort Platz nahmen, wo sie sich nicht heimischer hätten fühlen können. Katia und Marielle Labéque, aus dem französischen Baskenland, zum ersten Sinfoniekonzert der Kammerakademie Potsdam in der neuen Saison am Samstag Abend im Nikolaisaal. Für das Konzert in E-Dur für zwei Klaviere von Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847), das der Wunderknabe im zarten Alter von fünfzehn Jahren für sich und seine Schwester Fanny schrieb, waren sie nach Potsdam gekommen. Und schon die ersten Takte des Allegro vivace ließen ahnen, dass sich hier etwas aufbaute. Spannung war spürbar, sichtbar auf den Gesichtern der Schwestern hinter den schwarzen Flügeln, Spannung, die noch weiter anstieg, als Katia und Marielle Labéque endlich ihren Einsatz hatten. Doch zuerst waren da Bach und Hindemith. Zwei Sinfonien aus den Kantaten „Falsche Welt, dir trau ich nicht“ (BWV 52) und „Ich liebe den Höchsten von ganzem Gemüte“ (BWV 174), die Johann Sebastian Bach (1685-1750) aus den Eröffnungssätzen der „Brandenburgischen Konzerte“ zu Kirchenkantaten umgeschrieben hatte. Das Ensemblespiel hier im Vordergrund, transparente Stimmführung im Dienste der wunderbaren Bachschen Vielstimmigkeit. Kraftvoll und beherzt voranschreitend, die Größe des „Göttlichen“ demonstrierend. Die Kammerakademie stimmig harmonierend, glanzvoll im Wechsel, doch scheinbar noch Zurückhaltung übend. Rita Nauke am Cembalo mit Durchsetzungsschwierigkeiten, in der vereinten Kraft der Streicher und Bläser fast untergehend. Mit Paul Hindemiths (1895-1963) Oktett dann der gnadenlose Bruch zum harmonisierenden, in seinen Sinfonien fast schon zu gefällige Bach. Fünf Jahre vor seinem Tod geschrieben ist Hindemiths Oktett gepflegte Disharmonie. Hindemith ließ sich im Alter Zeit für seine Kompositionen. Durchdacht und perfekt im Detail die Resultate. Klarinette, Fagott, Horn, Violine, zwei Bratschen, Cello und Kontrabass, acht Solostimmen in ausufernden fünf Sätzen. Hindemith verzichtet auch hier auf Gefälligkeit. Der erste Satz behäbig, bedrohlich fast, sich Konzentration für die einzelnen Stimmen einfordernd. Die folgenden Sätze kaum Ruhe gönnend, aufregend, aufreibend, im letzten sogar witzig. Das Oktett musste sich erarbeitet werden, nicht nur vom Zuhörer. Faszinierend wie Alexander Bader an der Klarinette und Sergio Azzolini am Fagott sich die Töne mit wildem Körpereinsatz abrangen. Nach der Pause die Schwestern mit Mendelssohn Bartholdy. Und hier das Kammerorchester kraftvoll und homogen, wunderbar geführt durch Florian Donderer, dabei regelrecht elektrisiert durch Katia und Marielle Labéques Spiel. Sie harmonierten mit einer Leichtigkeit, die einem Angst machen konnte. Die Schwestern dabei wie Yin und Yang. Katia Labéque der reinste Wildfang, ständig in Bewegung, ihre ältere Schwester Marielle Labéque der Ruhepol. Ihre Zwiesprache auf den Tasten in blindem Einverständnis. Aufbrausend, dann wieder köchelnde Ruhe, Töne, die vor Spannung fast platzen wollten. Mendelssohns Romantik in dieser Interpretation fast schon wie eine Achterbahnfahrt. Die drei Sätze furios, atemlos und viel zu kurz. Das Publikum anfangs sprachlos, dann gnadenlos in seinem Applaus. Drei Zugaben spielten Katia und Marielle Labéque. Die Leute hätten noch mehr gewollt. Derartiges hat es im Nikolaisaal selten gegeben. Dirk Becker
Dirk Becker
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