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Kultur: „Wie Faust und Mephisto“

Dramaturgin Ute Scharfenberg über „Der Eisvogel“ – Uraufführung am Freitag im Hans Otto Theater

Stand:

Frau Scharfenberg, drei junge Menschen, die mit Terror die deutsche Demokratie erschüttern wollen, davon handelt der Roman „Der Eisvogel“. Drei junge Terroristen, da muss man zwangsläufig an den Nationalsozialistischen Untergrund, also die Mordserie der Zwickauer Terrorzelle um Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt denken. Gab dies den Ausschlag, „Der Eisvogel“ als Uraufführung auf die Bühne des Hans Otto Theaters zu bringen?

Als wir uns mit dem Roman befasst haben, gab es dieses öffentliche Wissen über die Aktivitäten des NSU noch nicht. Aber wir erkannten die politische Brisanz des Stoffes.

Was genau hat Sie so sehr an diesem Roman fasziniert, dass Sie mit der Bühnenadaption am Freitag die neue Spielzeit eröffnen?

Uwe Tellkamp hat sich hier, schon drei Jahre vor seinem Erfolgsroman „Der Turm“, zum ersten Mal mit der inneren Verfasstheit der neuen Republik auseinandergesetzt. Das in einer besonderen, in einer krisenhaften Situation. Das hat uns interessiert.

Also die Frage, wie sich der Mensch in einer solchen Krisensituation verhält?

Ja, wie verändern wir uns, wenn wir in eine Unruhesituation geraten? Wie tragfähig sind unsere Grundvereinbarungen? Wie verändert sich unser Denken im Moment der Krise? Natürlich denkt man heute an den NSU. Aber vor allem befragt Tellkamp auf kunstvolle Weise unsere Anschauungen und Verhaltensweisen, und das in einer außerordentlich spannenden Geschichte mit sehr interessanten und vielschichtigen Figuren.

Eine Befragung, die sich vor allem in der Verwirrung von Denk- und Verhaltensmustern der Hauptfigur Wiggo Ritter zeigt. Kann diese Verwirrung bei Wiggo Ritter auch als Lesart einer allgemeinen Verunsicherung in unserer Zeit verstanden werden?

Ja sicher, aber „Der Eisvogel“ ist ein Kunstwerk. Das heißt, er ist eine künstlerische Sicht auf die Wirklichkeit. Mit Wiggo Ritter gibt es eine starke Hauptfigur, die mit vielversprechenden Befähigungen und Ambitionen den Weg ins Leben sucht. Wiggo will in die Gesellschaft hinein, er will mitwirken und will nützlich sein. Auf diesem Weg, bei diesem Versuch, begleiten wir ihn eine Zeit lang. Interessant dabei sind die Stationen, die er auf diesem Weg durchläuft. Was ist sein Ausgangspunkt? Welche Versuche unternimmt, welche Erfahrungen macht er und wie verändert ihn dies, wie verändert das seine Haltungen? Welche Entscheidungen trifft er dann? Warum und wie scheitert er und wie verhält er sich dazu? Dadurch lernen wir das kennen, was um ihn herum ist, und die Figuren, denen er begegnet, erzählen etwas über seine, über unsere Zeit. Tellkamp hat die Figur des Wiggo Ritter hochinteressant ausgestattet. Er ist wie einer aus unserer Mitte. Die Figur kann für uns alle denken und sprechen.

Aber letztendlich scheitert Wiggo bei seinem Versuch, der Gesellschaft nützlich zu sein.

Wiggo erfährt, dass die Begriffe, die sein Handwerkszeug als Philosoph sind, nicht mehr ausreichen. Die Begriffe aus der Geschichte des Denkens, die das Dasein ergründen und erklären sollen, erfassen nicht mehr das, was er täglich erlebt. Er versucht also, die Begriffe zu radikalisieren, weiterzudenken und wieder tauglich zu machen für die Realität. Dabei ist er auch bereit, Grenzen zu übertreten. Er trifft dabei auf andere Leute, die diese Tabubrüche mitgehen, bis zu dem Punkt, an dem sie zu Verbrechen werden. Wiggo wird Teil einer antidemokratischen Bewegung, einer politischen Terrorbewegung. Das provoziert. Dabei untersucht Uwe Tellkamp sehr differenziert die verschiedensten Haltungen, blättert ein regelrechtes Spektrum von Weltanschauungen auf.

Die wichtigste Person für die Radikalisierung Wiggos ist Mauritz Kaltmeister. Was verbindet die beiden scheinbar so gegensätzlichen Menschen?

Wiggo ist ein Gelehrter, ein Gesellschaftskundiger. Aber sein Wissen reicht nicht aus, um das ausreichend zu beschreiben, was er sieht, was ihn umgibt. Am Punkt seiner tiefsten Verzweiflung begegnet er mit Mauritz einer Figur, die sagt: Ich erkenne dich in deinem Streben, deinem Bemühen. Wir beide sind auf dem gleichen Weg. Wiggo und Mauritz verbindet eine Art Faust-Mephisto-Beziehung. Da finden sich im Roman Details und direkte und indirekte Zitate, die Tellkamp dafür einsetzt. Mauritz bemüht sich um Wiggo. Er fordert ihn auf, hoch zu ihnen, den Auserwählten, zu kommen. Stell dich uns zur Verfügung, sagt Mauritz.

Es spricht von einem elitären „Uns“ und von einer Sache, einem höheren Zweck, dem man selbstlos diene. Diese Selbstlosigkeit, ist das nicht ein verbindendes Element zwischen dem Kopfmensch Wiggo und dem Tatmensch Mauritz?

Es sind nicht mehr die vielen, um die es Mauritz geht. Uns, das sind die wenigen. Das ist eine grundsätzliche Abweichung zwischen den beiden. Selbstlosigkeit ist kein Wert an sich. Die Selbstlosigkeit von Mauritz ist letztlich die eines politischen Verbrechers. Das ist keine Selbstlosigkeit, die das Wohl der Mitmenschen im Auge hat.

Wobei Mauritz sich aber nicht als Verbrecher sieht, sondern als einer der wenigen, die erkannt haben, dass die Gesellschaft seiner Meinung nach todkrank ist und dass es für ihre Erneuerung einen radikalen Umbruch braucht, für den er sich auch opfern würde.

Das ist das Motto von Mauritz: Die da unten wissen nichts, wir hier oben wissen alles. Aber Wiggo begreift, dass die Geschichte des menschlichen Denkens und Handelns sich als historischer Prozess vollzieht, sich nur in der konsequenten Auseinandersetzung mit der Geschichte weiterentwickeln kann. Mauritz negiert das. Er will zurück zu einem Ständestaat, zu etwas, das tief versunken liegt in der Vergangenheit. In dem Moment, in dem Wiggo erkennt, dass sein Professor ihn hinauswerfen musste, weil er als Jude in Auschwitz die geschichtliche Erfahrung gemacht hat, dass radikalisiertes Denken tödlich sein kann, begreift er endgültig das Falsche in der Denkweise von Mauritz und sagt: „Ich steige aus.“ Das ist der große Unterschied zwischen den beiden. Wiggo denkt dialektisch, Mauritz dagegen nicht; er denkt ahistorisch.

Aber beide denken in Utopien.

Wiggo schreibt seine Doktorarbeit über die Utopien, er hat sozusagen ein in die Hoffnung ausgespanntes Geschichtsverständnis. Tellkamp sagt selbst: Was Kunst kann, ist Gedächtnis geben, angehen gegen den Gedächtnisverlust in unserer Gegenwart. Alle Bücher, die er bisher geschrieben habe, seien der Versuch von Utopien. Auch hier liegt ein großer Unterschied zwischen Wiggo und Mauritz. Was Mauritz zu bieten hat, ist im besten Fall eine negative Utopie.

Kann eine Inszenierung wie „Der Eisvogel“ auch Antworten geben, wie wir in bestimmten Unruhesituationen reagieren können?

Wir am Theater interessieren uns immer für den handelnden Menschen in seiner ganzen Widersprüchlichkeit. Und was wir, was Kunst im Allgemeinen kann, ist das Fragenstellen an unsere Gegenwart, unsere Gesellschaft. Wir können gute Fragen zur Diskussion an das Publikum übergeben.

Neben Mauritz steht dessen Schwester Manuela, die für Wiggo eine Möglichkeit von Liebe eröffnet. Doch die Geschwister wirken wie unzertrennlich.

Mit Manuela und Mauritz erleben wir zwei Menschen, bei denen das Persönliche, das Private ins Politische umschlägt. Beiden haben ihre Eltern durch politischen Terror verloren und haben daraus ganz bestimmte Konsequenzen gezogen. Das macht die beiden auch dramaturgisch sehr interessant. Die beiden sind beschädigte Figuren, die gezwungen waren, Haltungen auszubilden. Vielleicht mehr als andere Menschen, die nicht in solchen existenziellen Notsituationen verstrickt waren.

Aber begegnen uns in „Der Eisvogel“ nicht grundsätzlich mehr oder weniger beschädigte Figuren? Ist nicht selbst Wiggos Vater beschädigt, der doch so lange stark und unantastbar wirkt?

Das stimmt. Aber Manuela und Mauritz sind durch ganz konkretes politisches Handeln beschädigt. Das ist bei den anderen nicht der Fall. Wiggos Vater ist weitaus komplexer als nur eine beschädigte Figur. Zunächst einmal ist er mit Macht ausgestattet, die stark auf die soziale Sphäre wirkt. „Der Eisvogel“ ist kein politischer Dokumentarroman, er erzählt von Menschen und einem großen Spektrum sozialer Haltungen. Dadurch entsteht ein Zeitporträt. Tellkamp schreibt in diesen 2005 erschienenen Roman die Krise nach dem Zusammenbruch der New Economy ein. Eine Krise, die ihre Schockwellen in die gesamte Gesellschaft gesendet hat und zu großen Verunsicherungen in unseren Grundvereinbarungen geführt hat.

Gab es trotzdem Überlegungen, aktuelle Bezüge zu den Verbrechen des NSU einfließen zu lassen?

Dieser starke Roman macht es nicht nötig, dass die Inszenierung explizit auf den NSU oder das tagesaktuelle Geschehen verweist. Aber natürlich denken auch wir, wenn auf der Bühne gewisse Sätze fallen: Das haben wir doch erst gestern in den Schlagzeilen gelesen! Der Stoff hat eine ungeheure Aktualität und Dringlichkeit bekommen. Interessant ist, wie genau Tellkamp schon vor sieben, acht Jahren Situationen beschrieben hat, wie sie heute im Zusammenhang mit dem NSU präsent sind.

Ein Beleg für die Qualität dieses Romans?

In meinen Augen ist das ein Beleg für die ungeheuer differenzierte und feine Beobachtungsgabe, die Uwe Tellkamp mit Blick auf unsere Gesellschaft entwickelt hat. Und auch für seinen Realismus als Künstler.

Das Gespräch führte Dirk Becker

„Der Eisvogel“ in der Regie von Stefan Otteni hat am kommenden Freitag, 19.30 Uhr, im Hans Otto Theater in der Schiffbauergasse Premiere. Karten unter Tel.: (0331) 98 11 8

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