Kultur: Wie mit dem Jüdischen umgehen? Esther Dischereit zu Gast im Literarischen Salon
„Der Morgen, an dem der Zeitungsträger“ – was macht, möchte man fragen. Fehlt da nicht ein Wort?
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„Der Morgen, an dem der Zeitungsträger“ – was macht, möchte man fragen. Fehlt da nicht ein Wort? Es war der letzte „Literarische Salon“ des Autonomen Frauenzentrums in diesem Jahr, zu dem am Dienstagabend die Berliner Autorin Esther Dischereit in das zugigige „fabrik-Café“ kam, um aus ihrem Buch mit dem unvollendet wirkenden Titel zu lesen.
Elke Liebs, die den Abend moderierte und hofft, die nicht nur für literarisch Interessierte äußerst anregende Veranstaltungsreihe auch 2011 fortführen zu können, stellte Esther Dischereit als eine Autorin vor, die auch politisch ist – in beinahe allem, was sie schreibt. Esther Dischereit verfasst Prosa und Essays, ist Lyrikerin, hat Hör- und Theaterstücke geschrieben und in vielen ihrer Projekte die Idee des Gesamtkunstwerkes neu belebt und weiter entwickelt, indem sie Drama, Tanz und vor allem Musik einbezog und zu einem Gesamtkonzept komponierte. Dies alles äußerst erfolgreich, wie die zahlreichen Preise, Stipendien internationalen Auftritte und Kooperationen belegen. So erhielt sie 2009 den Erich-Fried-Preis, war mehrfach Writer-in-Residence an verschiedenen Orten in den USA und kann auf Arbeiten mit dem Goethe-Institut verweisen.
Bereits eine Aufzählung von Titeln ihrer Bücher, wie „Als mir mein Golem öffnete“, „Mit Eichmann an der Börse. In jüdischen und anderen Angelegenheiten“, „Anna macht Frühstück“ oder „Im Toaster steckt eine Scheibe Brot“, so Elke Liebs, mache deutlich, dass in ihren Texten Alltägliches hervorgehoben wird. Aber auch die jüdischen Wurzeln der Künstlerin werden in den Titeln sichtbar. Die Suche nach einem Weg für den Umgang damit, der in Deutschland zwischen Vergessen und Hochkonjunktur schwankt – was ihr beides gleichermaßen unannehmbar erscheint – ist ein Hauptmotiv ihrer Arbeit.
In „Am Morgen an dem der Zeitungsträger“, der Geschichte aus dem gleichnamigen Kurzgeschichtenband, lauscht eine Frau jeden Morgen auf die Schritte des Zeitungsboten vor ihrer Wohnungstür. Schon bald entwickelt sie Fantasien, stellt sich vor, wie er aussieht, projeziert ein persönliches Schicksal in ihn hinein. Als zum Kühlen vor die Tür gestelltes Obst verschwindet, beginnt sie auf eine sonderbare und zaghafte Weise, ihm kleine Botschaften zu übermitteln. Nach und nach werden ihre Fantasien dabei immer erotischer ...
Das Leben scheint in dieser Geschichte, die aus sie immer mehr verdichtenden Wiederholungen besteht, gleichmäßig zu tropfen: Ob von einem Menschen mit Sinn aufgeladen oder nicht, es vergeht. Die nicht genauer konturierte Frau – ohne persönliche Geschichte, nur „im fließenden Ist-Zustand“ - wird „innen und außen gleichzeitig“ vorgestellt, wie die Autorin es formulierte. Für die Zuhörerinnen war dabei nicht wichtig, immer genau zu wissen, was Realität, was Traum oder weiter zurück liegende Erinnerung ist: Bewusst hat Esther Dischereit Räume zwischen Realität und Irrealität übertreten.
„Man kann aus der Erzählung einfach raus und wieder in sie rein gehen, ohne einen Plot verpasst zu haben“, sagte sie und unterbrach ihre Lesung für eine kurze Pause. Der Frage, worum es in dieser Geschichte eigentlich gehe, konnten sich die Zuhörerinnen im Anschluss nur langsam nähern. Auch deshalb, weil die von Esther Dischereit als kubistisch bezeichnete Erzählweise mit dem Verlust einer Identifikationsfugur einher geht: Die Frau hat keine Wurzeln und keine Gerichtetheit, es wird nicht deutlich, woher sie kommt oder wohin sie gehen könnte. Dennoch scheint sie ganz konkret in unserer Zeit angesiedelt zu sein. Und ließ dem Lesepublikum sehr viel Raum für eigene Interpretationen und Assoziationen.
An die Bilder des Malers Edward Hopper und die Filme der Regisseure Jim Jarmusch und Michelangelo Antonioni fühlten sich einige Zuhörerinnen erinnert, in denen aus der Beschreibung des scheinbar Banalen, Alltäglichen Bedeutung entsteht und – in den Antonioni-Filmen – das Bild von erstarrt-entfremdet agierenden Menschen. „Mein Traum ist, dass ich diese Geschichte mal in einer Zeitung lese, am liebsten neben den Maschinen, an denen die Zeitung hergestellt wird“, sagte Esther Dischereit. Und entließ ihr Publikum in den Winterabend.
Gabriele Zellmann
„Der Morgen an dem der Zeitungsträger: Erzählungen“ von Esther Dischereit, Edition Suhrkamp, Taschenbuch, 8 Euro
Gabriele Zellmann
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