Kultur: Wiede „schürte“ Spannung
Händels Johannespassion in der Nikolaikirche
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Händels Johannespassion in der Nikolaikirche Von Sonja Lenz Wie kann man nur so gehässig über Händels Johannespassion schreiben? Degoutant, unkonventionell und viel zu dramatisch in den Rezitativen fand Johann Mattheson das Werk. 52 Druckseiten, kaum weniger als Händels Partitur, umfasst die nörgelige Abhandlung des Musiktheoretikers. Als erste bedeutende Musikkritik ist sie in die Musikgeschichte eingegangen. Warum Händels Jugendfreund noch 1725 - also mehr als zwei Jahrzehnte nach der Uraufführung - seinen bösen Verriss veröffentlichte, ist ungeklärt. Neid und Missgunst wird Mattheson gern unterstellt. In jedem Fall hat er wesentlich dazu beigetragen, dass Händels Johannespassion nachhaltig in Verruf und Vergessenheit geriet. Da sage noch einmal jemand, Musikkritiken würden nichts bewirken. Am Karfreitag vor 200 Jahren wurde Händels Johannespassion in Hamburg aus der Taufe gehoben. Anlass genug, sie jetzt hier und da wieder zur Diskussion zu stellen. Der Nikolaichor Potsdam und das Bach-Collegium setzten sich in der Nikolaikirche erfolgreich für das Frühwerk ein. Ein Frühwerk, jawohl. Wunder darf man nicht erwarten. Händel war gerade neunzehn, als er sein erstes Oratorium geschrieben hat. Seine Opern und Meisterwerke wie der „Messias“ lagen damals noch vor ihm. Auch mit der zwanzig Jahre später entstandenen Johannespassion von Bach kann das Werk nicht konkurrieren. Wenn man darauf verzichtet, es mit den großen, barocken Meisterwerken zu vergleichen, ist es aber hochinteressant. Ein echter Händel, der schon manches aus späterer Zeit vorwegnimmt. Was Mattheson einst als formal unkonventionell kritisierte, wirkt heute originell. Die angeblich viel zu bildhaften Rezitative gehören zu den speziellen Reizen der Komposition. Arien und Duette sind sehr kurz gefasst. Es gibt keine Choräle. Händel legt Wert auf eine zügige Erzählung der Passionsgeschichte. Der dramatische Gestus ist stark ausgeprägt. Daran lässt der Dirigent Björn O. Wiede keinen Zweifel. Er schürt die Spannung, setzt auf Lebendigkeit. Das 18. Kapitel des Evangeliums hat Händels Textdichter Christoph Heinrich Postel ausgelassen. Er beschränkte sich auf das 19. Kapitel. Nach einer schmalen, feierlichen Einleitung von nur sechs Takten setzt das Geschehen gleich auf einem dramatischen Höhepunkt ein: mit Geißelqualen, Peitschenhieben und Dornenkrone. Der Nikolaichor versetzt sich größtenteils überzeugend in die Rolle des zornigen, blutdurstigen Volks. „Sei gegrüßet, Judenkönig“ erklingt mit gehörigem Sarkasmus. Mit rhythmischem Biss skandieren die Sänger ihr „Weg, weg mit dem
Sonja Lenz
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