Kultur: „Wir müssen die Zeit zerstören“
Der Arzt und Schriftsteller Uwe Tellkamp las im Waschhaus aus seinem Roman „Der Eisvogel“
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Der Arzt und Schriftsteller Uwe Tellkamp las im Waschhaus aus seinem Roman „Der Eisvogel“ „... das kalte helle Klirren der ausgeworfenen Patronenhülsen auf dem Betonboden der Lagerhalle in der stillgelegten Fabrik für Eierteigwaren, sehe die Pistolenmündung in der Mitte von Mauritz“ dunklem Mantel gerichtet, ich wundere mich, Herr Verteidiger, dass ich sowenig Gewalt über die Waffe hatte." Wie ein Krimi beginnt Uwe Tellkamps Roman „Der Eisvogel“ (Rowohlt Berlin). Mit diesen Sätzen, dunkel und unheilvoll, beginnt auch die Lesung Tellkamps in der dunklen stillgelegten Lagerhalle. Im Potsdamer Waschhaus. Auf die Bühne und den Autor fällt flammend rotes Licht: „Rot: die Sterbenden sehen diese Farbe zuletzt, hatte ich zu Jost gesagt, er blieb oft am längsten auf der Station, um Medizin zu treiben, wie er sagte, sich nach dem Papierkrieg um die Patienten zu kümmern.“ Buchhändler Carsten Wist stellt den 1968 in Dresden geborenen Arzt und Autor vor. Nach einem Medizinstudium in Leipzig, New York und Dresden arbeitete Tellkamp in einer unfallchirurgischen Klinik. Wenig Aufmerksamkeit erlangte sein Debütroman 2000 „Der Hecht, die Träume und das Portugiesische Cafe“ bei Faber & Faber. Ein Jugendroman über Lieben und Entlieben, Hoffen und Enthoffen. Von dem Buch gäbe es nur 163 Exemplare. Nur ebenso viele Seiten habe der Roman. Wesentlich umfangreicher das lyrische Werk Tellkamps, das 2004 große mediale Beachtung fand. Für das 100seitige Versepos „Nautilos“ erhielt er den Dresdner Lyrikpreis, für eine Passage aus dem Roman „Der Schlaf in den Uhren“ den Ingeborg-Bachmann-Preis im gleichen Jahr. Der suggestive strenge Rhythmus und das Metrum des Nibelungenliedes habe ihn inspiriert. Und das antike Schiffsmotiv. Tellkamp erklärt die Dramaturgie seines neuen Romans „Der Eisvogel“: Der junge Philosoph Wiggo Ritter weiß mit seinem Leben nichts anzufangen. Der erfolgreiche Banker-Vater setzt den tatenlosen Sohn unter Druck. Da lernt Wiggo den Patentanwalt Mauritz Kaltmeister kennen, der als Anführer des Geheimbundes Cassiopeia ihn mit seinen konservativ-revolutionären Reden fasziniert. Und zugleich abstößt. Wiggo verfällt ebenso zwiespältig der verführerischen Erotik seiner Schwester Manuela, die Mauritz so neurotisch liebt, wie Ulrich die Schwester Agathe in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. In dem kapitellosen Roman, der als Verteidigungsrede des schwer verletzten Wiggos konzipiert ist, verschmelzen die Zeiten, die Orte und die Perspektiven. Kaum lässt sich die Frage klären: wer spricht. Auch der Autor schlüpft, meisterhaft lesend, in die Mäntel beider Protagonisten. Sich identifizierend und distanzierend gleichermaßen. Noch immer hat Wiggo die Pistole von Mauritz. „Ich konnte Schluss machen mit diesem Leben, von dem ich nichts erwarte und das von mir nichts erwartete, für einen wie mich nicht viel übrig hatte außer Spott, Herablassung, Ablehnung. Wie lange hält ein Mensch das aus? Wie lange würden Sie es aushalten, Herr Verteidiger?“ Mauritz lacht über die Revolutionäre von gestern, deren radikale zerstörerische Methoden er übernimmt. Nicht aber die Ideen der „dekadenten Bürgerssöhne“ und „entlaufenen Pfarrerstöchter“, die von einer himmlischen Gerechtigkeit träumten und sich inzwischen in der irdischen gut eingerichtet haben. „Eine Gilde von Sonntagsrednern, intellektuellen Falschmünzern und Feiglingen, die nichts ändern am Lauf der Dinge, ins geradezu Irrationale; sie, die zufrieden waren, wenn sie den Lauf der Dinge nur richtig interpretiert hatten in einem Feuilletonartikel oder in einem Essay.“ In seiner Kanzlei zeigt Wiggo die Pläne der chronisch verstopften Städte. „Wir müssen zerstören, Wiggo, um dem Neuen den Weg zu ebnen, alles ist verstopft, dicht, ermattet ermüdet, die Gesellschaft verkalkt, sieh dir doch an, was haben wir denn hier, eine Sozietät reformunfähiger Rentner, der einzig wirklich wirksame Antrieb des menschlichen Handelns ist der Zwang, der existentielle Zwang, sich zu ändern oder zugrunde zu gehen.“ Irgendwann muss auch Mauritz resigniert feststellen, dass man in der authentisch beschriebenen Gesellschaft nicht handeln kann: „Wer handeln will in dieser Gesellschaft, wird über kurz oder lang zugrunde gehe.“ Als er einen Sprengsatz zünden will, um sich mit Manuela zu vernichten, schießt Wiggo auf den Freund: „Wir müssen die Zeit zerstören, wir müssen sie zerstören die Zeit...“
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