Maurizio Pollinis Berliner Klavierabend: Wurschtig – und doch so vertraut
Aber er ist doch eine lebende Legende, sagt eine ältere Dame über Maurizio Pollini, der in der Philharmonie Schumann und Chopin spielt, sie sagt es beteuernd und enttäuscht zugleich. Das Legendenhafte springt diesem Klavierabend tatsächlich aus allen Knopflöchern.
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Aber er ist doch eine lebende Legende, sagt eine ältere Dame über Maurizio Pollini, der in der Philharmonie Schumann und Chopin spielt, sie sagt es beteuernd und enttäuscht zugleich. Das Legendenhafte springt diesem Klavierabend tatsächlich aus allen Knopflöchern. Die Philharmonie ist bevölkert von Hörern, die auf geradezu greifbare Weise Erwartungen an den italienischen Pianisten hegen. Pollini, der 1960 als junges Chopin-Genie die Klavierwelt eroberte und nun mit vorgebeugtem Oberkörper auf die Bühne zieht, löst diese Erwartungen auch ein. Die Vertrautheit mit dem Repertoire ist ihm sofort anzuhören, die einstmalige Anschlagskunst scheint hinter den Leggierissimo-Passagen bei Chopin ebenso auf wie hinter der eigentümlichen Komplexität der Schumannschen Polyphonie. Noch immer leuchten Töne und glitzern Läufe, noch immer beherrscht er das alte Rubato-Spiel von Anziehen und Abfedern. Zugleich aber mischt sich Wurschtigkeit in seine Interpretation. Der 1942 Geborene schüttelt die Stücke auf eine Weise aus dem Ärmel, wie man sie in diesem Alter zwar ebenfalls gerne aus dem Ärmel schütteln würde. Aber vielleicht nicht gerade im großen Saal der Philharmonie.
Chopins Barcarolle op. 60 oder das zugegebene Nocturne Des-Dur scheinen es dabei noch zu verkraften, dass Genauigkeit und Seele fehlen; die Aufführungsgeschichte hat diese Musik oft mit dem Anschein des plätschernd Vorüberziehenden versehen. Doch Schumanns satztechnisch filigrane, emotional hochbewegte „Kreisleriana“ verträgt solchen Gleichmut nicht, weder in technischer noch in interpretatorischer Hinsicht. Die Stärke der Affekte geht verloren, polyphone Stellen zumal in den unteren Registern verklumpen, nur andeutungsweise zeigt Pollini, wie schön es wäre, die Arabeske op. 18 von ihren ersten Vorhaltstönen aus zu deuten – als Knoten über Knoten, die sich auf betörende Weise lösen lassen. Gleichwohl lässt auch dieser Abend aufhorchen. Man begreift, warum Schumann so selten aufgeführt wird, und hat noch mehr Respekt vor dem Chopinschen Konstruktionsprinzip. Christiane Tewinkel
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