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Gefühlvoll. Hans-Jochen Röhrig las mit musikalischer Begleitung.

© Manfred Thomas

Von Gerold Paul: Zärtlich wie Suleyken

Hans-Jochen Röhrig las im Foerster-Garten aus Siegfried Lenz’ „Masurischen Geschichten“

Stand:

Mühselig hatte Hamilkar Schaß im einundsiebzigsten Jahr noch das Lesen gelernt, selbständig lesen gelernt! Und dann stört ihm dieser magere aufgescheuchte Adolf einfach die Lektüre! Räuber Wawrila, der aus den Sümpfen, soll einen Überfall auf das Dorf Suleyken planen, Hamilkars Flinte werde gebraucht, und Hamilkar selbst, Großvater dessen, der all die zwanzig Geschichten vom südmasurischen Dorf dieses Namens erzählt. Die einen sagen, es hätte niemals bestanden, andere könnten es noch heute beschreiben: Bei den Rokitno-Sümpfen gelegen, mit einer Kleinbahn gut zu erreichen.

Schissomir liegt ganz in der Nähe, das müsste nun wirklich jeder kennen, schließlich spielt dort eine andere Geschichte aus dem phantastischen Wirklichkeitsarsenal des 1927 im ostpreußischen Lyck geborenen Schriftstellers Siegfried Lenz: Dorthin liefen nämlich eines Tages zwei Suleykaner auf den Markt. Plew führte eine steinalte Ziege am Halsstrick, sein Nachbar Jegelka ein Kälbchen. Der eine verkaufte, der andere nicht. Um doch noch an die Einnahmen von Plew heranzukommen, schlägt Jegelka mit erlesener Höflichkeit vor, ihm das Kälbchen zu überlassen, wenn er nur jenen grünen Frosch äße, der da gerade auf der Straße sitzt. Wie die siebente dieser Masurischen Geschichte ausgeht, kann man ja nachlesen, Siegfried Lenz freute es sicherlich, wenn sich heute noch jemand für seine Erzählsammlung von 1955 interessiert.

Hans-Jochen Röhrig machte sie am Wochenende in einer wieder einmal sehr gut besuchten Lesestunde der Urania von Temperament und Verständnis her so lebendig wie am ersten Tag. Zwischen einer riesenhaften Schwarzkiefer und der gleichhohen, dafür efeugewürgten Lärche in Marianne Foersters denkmalgeschützten Garten (ihres Vaters Karl) las er sechs dieser skurrilen, lebensweisen wie schnurrigen, so unwahrscheinlichen wie besinnlichen Geschichten, die genauso stattgefunden haben könnten wie „Schissomirs großer Tag“ und „Eine Sache wie das Impfen“, oder auch nicht. Vielleicht ist „So zärtlich war Suleyken“ auch pure Phantasie, trotz des bestellten und wiederum allerhöchst genehmigten Sonnenscheins im grünem Garten-Erbe von Karl Foerster. Sein Vater Wilhelm war 1888 Mitbegründer der Urania, als „Gesellschaft zur Verbreitung der Freude an der Natur“, doch schon der Filius wollte sie, wider aller biologischen Regel, zum „Durchblühen“ zwingen, was genauso unsinnig ist wie ausgerechnet so einen Garten zum Denkmal zu schlagen. „Die Natur“ ist schließlich auch nur ein Mensch. Weiß einer mehr?

Die Lesung nun war freundlich, heiter, gut-literarisch und gut-musikalisch, wozu der Fragottist Hanno Koloska mit einem breiten Repertoire von Conrad Jacobi bis Maurice Allard, von Ludwig Milde bis Karel Pivonka, auf seine Weise beitrug: Auch sein Instrument hat Temperament, so viel freundliche Brummigkeit wie jener Hamilkar, den der „Lesesatan“ fest im Griff hat; selbst der fuselstinkende Räuber Wawrila kapitulierte vor ihm inmitten masurischer Wälder, alle Achtung! Derartige Geschichten sind genauso wahr, wie sie erfunden sein könnten. Sie haben die künstlerische Qualität eines Marc Chagall, genauso poetisch, luftig, im Mit- und Weiterdenken genauso elastisch, sogar der Grad von Melancholie stimmt überein. Die treuesten unter Uranias Bildungsbürgern werden diesen Nachmittag an die erste Folge von Lenzens „Masurischen Geschichten“ angeknüpft haben.

Ein dritter Teil soll aller Wahrscheinlichkeit nach in gleicher Besetzung folgen. Vielleicht gelingt es den Veranstaltern, doch noch ein Paar Ecken und Käntchen einzubauen, damit nicht immer alles so hehr und so glatt ist, dergestalt etwa, dass man diesen „fernöstlichen“ Menschenschlag Deutschlands zu Zeiten Suleykens – Lenzens skurrile Zirkusgeschichte bestätigt das – ohnehin nie ganz ernst nahm, für die „Reichsdeutschen“ waren es entweder Exoten oder irgendwelche „Idioten“, schreibt der Historiker Andreas Kossert in seinem Buch „Kalte Heimat“. Bildung muss ja nicht immer auch „Idylle“ sein.

Hans-Jochen Röhrig las also sechs dieser Geschichten mit bewunderswertem Gefühl. Ob freilich sein Dialekt ein Masurisches Original war, könnte auch bezweifelt werden, es hörte sich gelegentlich an, als ob da ein steinalter Literatur-Zar polnischer Abkunft jiddeln würde. Doch sei’s: Plew und Jegelka trennen sich im Guten, Räuber Wawrila flieht in die Rokitno-Sümpfe zurück und Tantchen Arafa bekommt ihre schöne Beerdigung – so zärtlich war nämlich Suleyken.

Gerold Paul

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