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Kultur: Zeitreise mit den Tiger Lillies

Der Abend mutete wie eine Zeitreise ins London des 19. Jahrhunderts an.

Stand:

Der Abend mutete wie eine Zeitreise ins London des 19. Jahrhunderts an. Unzählige Außenseiter, Freaks und traurige Gestalten schienen aus dem Nebel der Bühne zu erstehen. War das dort nicht die dicke Ballerina, „eating twenty chickens every day“? Und dort, wand sich dort nicht die Schlangenfrau? Vorsicht vor ihrem teuflischen Kuss!

Aber nein, es waren nicht die Gassen und Gossen Londons, in denen all diese Figuren zum Leben erweckt wurden. Es war die Bühne in der „fabrik“, auf der am Samstagabend die legendären Tiger Lillies ihr 20-jähriges Bühnenjubiläum feierten.

Wer die Tiger Lillies kennt, weiß, dass ein Abend mit ihnen breitgefächerte Unterhaltung bedeutet. Ihre Mischung aus Kabarett, Varieté, Oper und Zigeunermusik verspricht einen hohen Vergnügungsswert. Schon ihre Instrumentenauswahl ist ein Hingucker, denn wer spielt denn heute noch auf einer singenden Säge? Vor ausverkauftem Saal also boten Martyn Jacques, Adrian Stout und Adrian Huge Auszüge aus ihren Bühnenprogrammen „Gorey End“ und „The Songs of Shockheaded Peter“. Inspiriert wurden sie durch die Texte von Autoren wie Bertolt Brecht, Edward Gory oder Heinrich Hoffmann. Und so traf man an diesem Abend auch mit dem Zappelphillip oder dem Daumenlutscher Konrad auf alte Bekannte aus Kindertagen.

Die Stimme von Martyn Jacques ist ein Phänomen. In Tonlagen, wie sie nur eine Frau oder ein Kastrat treffen können, singt er von Schmutz, Dreck und der Hoffnungslosigkeit, um im nächsten Moment die Stimme wieder nach unten zu schrauben und ihr diese versoffene, rauchige Note zu geben, wie man sie von Tom Waits kennt. Und wie es einem dann das Herz zerreißen wollte bei diesen unendlich traurigen Balladen, deren Tragik noch gesteigert wurde durch Martyn Jacques’ clownesk geschminktes Gesicht!

Überhaupt haben alle drei Musiker Theaterqualitäten. Besonders dem Schlagzeuger Adrian Huge sitzt der Schalk im Nacken. Sein Mienenspiel ist unglaublich und als er irgendwann mit Plastikhämmern sein Schlagzeug demoliert, ist der Spaß perfekt. Und der wildeste Teil des Abends damit auch vorbei.

Denn das fiel auf während ihrer Show: den traurigen Balladen hatten die Tiger Lillies den wichtigsten Platz eingeräumt, die großen Aufreger in der Tasche gelassen. Mag sein, dass 20 Jahre Banderfahrung etwas ruhiger machen. Vielleicht funktionieren manche Texte aber auch eher vor heimischem Publikum. Sex mit Schafen gab es also an diesem Abend nicht, dafür aber so manch traurige Geschichte über Freaks, tragische Existenzen, andere Randfiguren und auch den Daumenlutscher Konrad: Schnipp, schnipp. Andrea Schneider

Andrea Schneider

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