Kultur: Zu früh zu spät gekommen
Die Potsdamer Schriftstellerin Antje Rávik Strubel schaut ins Sommerloch und ins Bürgerservicecenter
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Pünktlich zur Ferienzeit ist Potsdam ins Sommerloch gefallen. Das ist nicht ungewöhnlich. Das passiert jedes Jahr. Und jedes Jahr entsteht ein ähnliches Bild: Die Wiesen am Ufer des Heiligensees und im Park Babelsberg verschwinden unter bunten Decken, aufblasbaren Matratzen und Körpern in allen Schattierungen und Stadien gebräunter Haut. Der Geruch von Sonnencreme überlagert den Duft der Blüten, eine vertraute, schillernde Fettspur beginnt bereits, die Wasseroberfläche in Ufernähe zu überziehen. Die Straßen dagegen in ihrer Stille wirken vorzeitlich. Kaum Staus! Überall Parkplätze! Kein Gedränge an den Straßenbahnhaltestellen! Kein Gedränge bei Kaufland! Die Post: menschenleer! Jeder Schritt wirft ein enormes Echo. Nur manchmal klingen Stimmen auf, wenn wieder ein überheizter Bus seine Türen geöffnet und einen Trupp Touristen hinaus in die Sonne entlassen hat. Dann steigt ein Geschnatter aus geblümten, luftigen Kleidern und kurzärmelig karierten Hemden in die laue, zartlila Abendluft, die wenig später in ein tiefes, beruhigendes Blau übergeht.
Die Einheimischen, so scheint es, sind alle weg. Nur ich nicht. Ich war schon verreist. Und ich bin, so scheint es, zu früh zurückgekehrt. Jetzt stehe ich am Rand des Sommerlochs und sehe, wie Potsdam auf Sparflamme läuft, ob beim Bäcker, im Bürgerbüro, an den Ampeln, den Baustellen, ob in der Autowerkstatt oder bei der Schneiderin. Alle sind unterbesetzt. Die wenigen, die noch da sind, bewegen sich wie in Trance. Berauscht, weltvergessen und vor allem langsam. Sogar die braungefleckte Taube ließ sich Zeit, als sie über die Straße tippelte, korrekt an der Fußgängerampel, die allerdings rot anzeigte. Sie schien zu wissen, dass man in einer leeren Stadt problemlos mitten auf der Kreuzung anhalten kann. Sie blickte mich noch geruhsam und ein bißchen hochnäsig an, ehe sie ihren Weg fortsetzte. Ich sah sie in Richtung Stadthaus davon trippeln, vielleicht hatte auch sie ihren Bewohnerparkausweis zu erneuern, dachte ich, in so einem Zustand ist alles möglich.
Vieles geschieht in diesem Jahr zu früh oder zu spät. Allein der Sommer. Ich habe das letzte Winterhalbjahr in Helsinki verbracht, ich war fixiert auf Wärme und Licht und rede seither viel über das Wetter. Nicht die Dunkelheit Helsinkis hat mich verrückt gemacht, sondern das Grau. Dieses fiese, nebelschwere, tiefhängende, unpoetische, völlig sinnlose, feuchte Grau. Von Oktober bis Mitte Januar, so scheint es mir, habe ich ein einziges schwindelerregendes Nebeldasein geführt. Und als ich zurückkehrte, sollte der Frühling kommen, und kein Frühling kam und kein Sommer. Stattdessen kam die Flut. Auch die kam zu früh. Sie hebelte den Titel des letzten großen Hochwassers gewissermaßen aus; eine Jahrhundertflut kann es nicht alle zehn Jahre geben. Das Wasser in meinem Keller ist noch immer nicht vollständig abgeflossen, und auf der Einladung zur nächsten Eigentümerversammlung wird unter Tagungsordnungspunkt 5.4. die Instandsetzung eines Feuchtigkeitsschadens mit zusätzlichen Kosten zur Abstimmung gestellt. Zu früh, wie ich angesichts meiner finanziellen Lage finde; sollte die Abstimmung jedoch negativ ausgehen, könnte es bald zu spät sein. Aufs große Ganze geblickt, ist es ohnehin zu spät, aber das ist ein anderes Thema.
Auch meine Reise hatte ich um ein Weniges zu früh angetreten. Ich hatte vor, wandern zu gehen, aber die Gipfel der Alpen lagen noch unter einer geschlossenen Schneedecke. Alle Wege oberhalb von 2500 Meter waren gesperrt. Noch eine Woche vor meiner Ankunft in Osttirol waren Lawinen ins Tal gebrochen. Aber die Wiesenblumen blühten schon, die Knospen der Almrosen waren kurz vorm Aufplatzen, und das Gras stand kniehoch. „Dieses Wetter ist unzeitgemäß“, sagten die Almbauern. „Die Kälte hat sich zu lange gehalten.“ Und eines Morgens lagen die Blumen geplättet unter einer Schneedecke. Ich zog die Gardinen auf, und alles war weiß. Es war der 20. Juni. Nachts hatte es auch im Tal Schneeschauer gegeben. Wie gekämmt lagen die Gräser, als der Schnee am nächsten Tag langsam abschmolz. Im Radio warnten sie vor Bodenfrost. „Nehmen Sie die Pflanzen rein!“ Tagelang stand das Thermometer am Morgen bei zwei Grad. „Die Klimaerwärmung“, sagten die Bauern, „hält nicht, was sie verspricht“.
Das Kind meines Bruders kam eine Woche zu früh zur Welt. Jetzt hat es keine Tränen, weil die Zuflüsse zu den Augen noch nicht genug entwickelt sind. Ich stelle mir das vor wie Kanäle, in denen das Hochwasser abgeleitet werden soll. Die Flut ist da, aber die Kanäle sind noch nicht fertig. Sie bleiben trocken wie die Augen, wenn das Kind weint. Das Wasser muß sich inzwischen andere Wege suchen.
Nur was den Bewohnerparkausweis betrifft, kehrte ich rechtzeitig aus dem Urlaub zurück. Ich hatte noch einen Tag, um ihn zu erneuern. Meine Freundin machte sich freundlicherweise zum Bürgerservicecenter auf, es waren Ferien, dachte sie, da geht es ruckzuck. Als sie nach zwei Stunden anrief, war sie noch immer nicht an der Reihe. Sie hatte die Wartenummer 75. „Seit einer halben Stunde steht die Anzeige stetig auf 57“, sagte sie. Es gab nur eine einzige Angestellte, im Warteraum herrschte eine Atmosphäre wie an den Ticketschaltern der Berlinale, bevor sie geöffnet werden. Nur die Stimmung war schlechter. Auf die Frage, ob es überhaupt zu schaffen sei, alle Wartenden abzufertigen, bevor das Amt 15 Uhr schließe, lautete die Antwort unumwunden und brandenburgisch barsch: „Muss ja.“ Nun machte meine Freundin aber den Fehler, ihre Zelte nicht im verschwitzten Warteraum aufzuschlagen, sondern einen kurzen Bummel ins Innere der Fußgängerzone zu unternehmen, um sich mit einem frischen Möhrensaft die Sommerlaune zu erhalten, sie traf ein paar Bekannte, unterhielt sich gut, erzählte auch vom späten Schnee. Als sie zurückkam, war ihre Nummer gerade durchgerutscht. Die Anzeige stand gnadenlos bei 76. Seit elf Uhr morgens hatte sie gewartet. Jetzt war es zwei. Sie war zu spät. Was die Frau am Schalter ihr noch einmal deutlich machte. „Die Nummer ist abgelaufen.“ Pech gehabt. Der Zug ist weg. Die Chance vertan. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Bodenfrost mitten im Sommer. „Aber ich habe seit drei Stunden wie alle anderen gewartet und war nur mal kurz draußen“, sagte meine Freundin verzweifelt und hängte noch ein ärgerlich ergebenes „Ich bitte Sie!“ an. Man ließ sich – langsam – erweichen. Als sie endlich vorm begehrten Schalter saß, wurde ihr allerdings erklärt: „Ich habe Sie nur aus Nettigkeit nachträglich noch drangenommen. Denn wenn das jeder Bürger so machen würde, würde das System nicht funktionieren.“ Vielleicht lag es daran, daß meine Freundin das Ergebensein auf einmal satt hatte und sagte: „Aber das System funktioniert doch sowieso nicht!“ Oder es lag daran, dass das System nicht funktionierte, jedenfalls bekam meine Freundin die Bewohnerparkausweiserneuerung nicht. Das Auto, so hieß es, sei auf mich angemeldet. Und obwohl meine Freundin den alten Parkausweis mitgebracht hatte, obwohl sie ihn bereits die letzten beiden Male ohne Probleme erneuert hatte, obwohl in den Computern alles Nötige erfasst war, um unsere Parkbefugnis zu beweisen und mittlerweile nicht nur den Behörden in Potsdam, sondern sicher auch in den USA mein Autokennzeichen bekannt sein dürfte und wahrscheinlich schon ein Blick in einen der Datenspeicher Europas ausreicht, um zu erfassen, dass meine Freundin dieses Auto ebenfalls benutzt und den Fahrersitz immer höher einstellt als ich, so dass ich ihn jedesmal wieder herunterstellen muß, dass sie außerdem unter der gleichen Adresse gemeldet ist wie ich, daß sie sogar ganz korrekt und unter dem offiziellen Label „verpartnert“ mit mir zusammenwohnt, wollte man an diesem Montagmittag im Bürgerbüro eine Vollmacht oder eine Nutzungsbestätigung sehen, die das alles noch einmal erklärte. Die Zahl an der Anzeige im Warteraum blieb ausdauernd bei 76. Ich erhielt einen weiteren Anruf. Diesmal war die Mitarbeiterin persönlich dran. Wir verhandelten so lange, bis sich herausstellte, dass eine E-Mail ausreichen würde, wenn meine Unterschrift darauf zu erkennen wäre. Ich wollte fragen, ob es nicht besser sei, gleich noch meine Geburtsurkunde mit einzureichen als Beweis, dass es mich, die in der Straße, in der sie parken wollte, weil sie dort wohnte, auch tatsächlich gab, daß also die, die die Bewohnerparkausweiserneuerungsbefugnis meiner Freundin beglaubigen sollte, überhaupt existierte, hielt mich aber zurück. Für scharfe Töne herrschte überall zuviel Sommerlochatmo.
Die legalisierte Öffnung der Ehe für alle Menschen in Kalifornien kam übrigens ebenfalls zu spät. Gemessen am amerikanischen Freiheitsideal und am kalifornischen Lebensgefühl hätte der Bundesstaat nicht-heterosexuellen Liebenden die Ehe schon viel früher gestatten müssen, weshalb man jetzt so tut, als wäre man damit der Erste. Die CDU steht wenigstens dazu, dass sie es war, die die eherne Bastion der Hetero-Ehe bis zum Letzten verteidigt hat und damit zu denen gehört, die zu spät kommen.
Bevor mein Gespräch mit der Bürgerservicecenter-Mitarbeiterin am Telefon eskalieren konnte, nahm mir meine Freundin den Hörer aus der Hand. Sie hatte noch einmal auf den alten Bewohnerparkausweis gesehen. „Weißt du was“, sagte sie zu mir. „Ich sehe gerade die Jahreszahl. Und rate mal, was da steht. Da steht 2014. Das heißt, der Ausweis ist noch ein Jahr gültig!“ Ich musste lachen, ich lachte so, dass mir eine Träne auf die Wange tropfte. Die Wasserversorgung meiner Augen scheint ausgesprochen gut zu funktionieren. (Ich war laut meiner Mutter auch äußerst termingerecht auf der Welt.)
Aber wahrscheinlich geht die Geschichte anders. Wahrscheinlich ist es die Taube gewesen, die den ganzen Vormittag den Schalter blockierte und dafür sorgte, dass wir zu früh zu spät kamen. Denn wie man weiß, sind Tauben Symbole des Friedens. Sie lassen sich Zeit.
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