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Kultur: Zu viel gesehen

„Klassik am Sonntag“ mit der „Leningrader“

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Der Krieg tobt, und bereits im September 1941 ist Leningrad von deutschen Truppen eingeschlossen. Würde die Stadt sich ergeben, Widerstand leisten? Fast 900 Tage dauert die Blockade, bei der rund eine Million Menschen an Hunger und Kälte sterben. Doch der Überlebenswille ihrer Einwohner ist stärker. „Wenn ich in jenen Tagen auf die Straße hinaustrat, schaute ich schmerzerfüllt und zugleich stolz auf meine geliebte Stadt“, erinnert sich Dmitri Schostakowitsch an jene Zeit existenzieller Bedrohungen. Die Stadt „war niedergebrannt, erduldete alle Leiden des Krieges“. Doch Leningrad trotzt dem Feind, kämpft ums Überleben. Dabei stehen Künstler nicht abseits: Schostakowitsch schreibt seine Siebente Sinfonie, die als „Leningrader“ zum Synonym für Durchhaltevermögen, Lebenswillen, für den Sieg der Kultur und Vernunft über Barbarei und Finsternis wird. Heroisches Pathos ist ihr dabei genauso eigen wie grelle Klangballungen, lyrische Erinnerungen, bange Fragen an den Ausgang des kriegerischen Ringens. Wie kaum ein anderes Werk ist sie Spiegelbild ihrer Zeit.

Es zu hinterfragen, bot sich bei einem Gesprächskonzert innerhalb der „Klassik am Sonntag“-Reihe im Nikolaisaal. Moderator Clemens Goldberg hatte die Aufgabe der rechten Deutung des musikwissenschaftlich inzwischen kontrovers diskutierten Werkes übernommen, um Erhellendes aus Noten und Zeitgeschichte zu destillieren. Die erforderlichen Klangbeispiele liefert das Brandenburgische Staatsorchester unter Leitung von Zsolt Hamar. Der Komponist habe, so Goldbergs Prämisse, „viele verborgene Botschaften in Musik gekleidet“. Dabei betätigt sich der Moderator als ein Spökenkieker und Erbsenzähler, der in die „Leningrader“ Dinge hinein geheimnist, die an den Haaren herbeigezogen scheinen. Jede Klangdissonanz, jede an- oder absteigende Quinte, jede Seufzermelodik avanciert als Beweis für des Komponisten Widerständigkeit gegenüber dem Staat. Bei aller musikwissenschaftlichen Tüftelei hat Goldberg schlichtweg vergessen, was die Musik den Menschen damals bedeutete, wie sie ihnen half, Überleben und Widerstand gegen die faschistische Maschinerie zu organisieren. Die Musiker haben auch eine Meinung, eine eigene, die sie nach der Pause klingend und im Ganzen darbieten.

Mit einem kraftvollen, energisch musizierten Thema leitet sich die 7. Sinfonie C-Dur op. 60 ein. Freude am Leben und Stolz auf Erreichtes sind unüberhörbar. Ein lyrisches, volksliednahes Seitenthema zeugt von Anmut und friedlicher Ruhe. In diese Welt bricht wie aus weiter Ferne ein Trommelrhythmus, der etwas alarmierend Unruhiges hat und zu immer größerer Grelle und Lautstärke anwächst. Ein rücksichtsloses, unerbittliches Dahinstampfen – beklemmender Beginn des Krieges. Ein langer und hartnäckiger Kampf steht bevor. Der 90-köpfige Klangkörper zittert, bebt, schreit und zuckt das mörderische Ringen mit schier atemberaubender Intensität heraus. Nicht weniger prägnant deuten die Musiker die tröstlichen Mittelsätze mit ihren Erinnerungen an daseinsfrohe Tage und heimatliche Weiten. Eine changierende Choralmelodie lässt Trauer und Klage zu, während Flötengesang für Hoffnung steht. Sehr beeindruckend, wie schließlich aus Lethargie kämpferisches Aufbegehren erwächst, der attacca in die Vision des apotheotisch beschriebenen Sieges mündet. Höchst erfreulich, dass der Dirigent bei aller analytischen Klarheit auch große Gefühle zulässt. Dieser ausdrucksberstenden, Herz und Verstand gleichermaßen berührenden Wiedergabe fällt lang anhaltender Bravojubel zu. Peter Buske

Peter Buske

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