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Kultur: Zur Lyrik verführt

Lesung im Literaturladen Wist zu berühmten deutschen Gedichten

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Lesung im Literaturladen Wist zu berühmten deutschen Gedichten Wo ist heute die Poesie nur geblieben? „Überall und nirgends", meinten die Zeit-Kolumnistin Barbara Sichtermann und ihr Co-Autor, der Literaturkritiker Joachim Scholl, bei der Vorstellung ihres Essay-Werkes „50 Klassiker der Lyrik - bedeutende deutsche Gedichte“ im Literaturladen von Carsten Wist . Wohl nirgends, wird der sagen, der an den schmerzverzerrten Gesichtsausdruck von Schülern denkt, die zur gefürchteten Gedichtsinterpretation aufgefordert werden. Oder überall, beschieden die Autoren vor dem aufmerksamen Publikum am Mittwoch Abend, schaut man auf die Verwendung von Dichtung in der Werbung, in der Rap-Musik und den bisweilen dichterischen Erfordernissen beim Verfassen von Kurzmitteilungen via Handy. Das im Gerstenberg Verlag erschiene Gedichts-Kompendium der beiden Berliner Autoren bietet einen chronologisch geordneten Kanon durch mehr als 500 Jahre deutsche Dichtkunst, die Essays dazu sind reich illustriert und mit wichtigen Hintergrundinformationen versehen. Es ging jedoch nicht um „die exakte philologische Beschreibung in Versmaß, Metrik und Reimschema“, erklärte Joachim Scholl, hingegen „sollte zu jedem der ausgewählten 50 Gedichte eine spannende Geschichte erzählt werden“. Und weil Sichtermann und Scholl nicht nur als Schriftsteller arbeiten, sondern beide auch langjährige Rundfunk-Erfahrung besitzen, wurden die Zuhörer von den hörfunkreif vorgetragenen Beiträgen förmlich mitgezogen in die Zeiten von Goethes „Wanderers Nachtlied“, Mörikes Frühlingsgedicht „Er ist“s“, Erich Frieds von der Berliner Pop-Göre Mia vertontes Liebesgedicht „Es ist was es ist“ (sagt die Liebe) oder Tucholskys Nazi-Parodie „Die Mäuler auf“. Die Klassiker der Dichtung, die nur scheinbar bekannt und wohl eher selten wirklich durchdrungen sind, bekamen durch die Beschreibung von Sichtermann und Scholl eine illustre Lebhaftigkeit und Frische zurück. Die Melancholie von Goethes „Wanderers Nachtlied“ wird begreiflicher, wenn man sich den 30jährigen vorstellt, wie er, aus Mangel an Papier und von seinen Gefühlen übermannt, mit Bleistift sein Meisterwerk auf das Holz einer Berghütte im Thüringer Wald schreibt. Sichtermann und Scholl verfolgen keinen pädagogischen Ansatz, sie wollen schlicht zur Lyrik verführen. Ihre Essay-Texte selbst haben dabei einen so guten Klang, dass sie nun auch als Hörbuch erhältlich sein werden. Matthias Hassenpflug

Matthias Hassenpflug

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